42 Minuten. Laure M. Hiendl im Portät

11.12.2021
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Laure M. Hiendl | © Rasmus Bell

Laure M. Hiendl ist seit 2021 Assistenzprofessor* für Komposition an der Universität Mozarteum. Ihr neues Stück ist Vorbote eines Festivals, das im Juli 2022 in Nürnberg stattfinden wird.

Das Festival „Musik Installationen“ findet vom 7. bis 10. Juli 2022 in Nürnberg statt.

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Alles, was wir vom traditionellen Konzertformat kennen, ist einer starken linearen Dramaturgie verpflichtet, die auch aus einem linearen Geschichtsbewusstsein kommt – damit wollen wir brechen.

— Laure M. Hiendl

„In Abeyance“. In der Schwebe. Oder in fünf Abschnitten von A bis Z. Das jüngste Stück Laure M. Hiendls (*1986, alle Pronomen), Komponist* und Performer* zwischen Konzertmusik, Musiktheater, Installation und Performance und seit 2021 Assistenzprofessor* für Komposition an der Universität Mozarteum, ist leiser als viele ihrer früheren Arbeiten. Das Explizite und Frontale von Stücken wie „White Radiance TM“ oder „Ten Bullets Through One Hole“, die sich mit der politischen Dimension von Produkten wie Hautbleachingcremes oder den verstörenden Analogien der Sprachen heteromaskuliner Mainstreampornografie und waffenindustrieller Propaganda beschäftigen, weicht einem weniger konfrontativen, wenn auch nicht weniger politischen Setting. „Es war wichtig, es so gemacht zu haben. Ich merke aber auch, dass ich jetzt anders komponiere“, resümiert Hiendl.

Es ist seine erste kompositorische Arbeit ohne Elektronik für ein analoges Ensemble und definitiv kein Konzertstück im klassischen, linearen Sinn. Es ist vielmehr ein von den Theorien und Gedanken der kürzlich verstorbenen amerikanischen Kulturtheoretikerin Lauren Berlant inspirierte Versuch, eine Art musikalisches Tableau vivant zu zeichnen, das in Raum und Zeit existiert und sich in sich permanent fast unmerklich verändernden neuen Perspektiven zeigt. Die Partitur des Stücks ist folgerichtig das Ergebnis eines Copy-and-Paste-Prozesses, bei dem sich die Notation zweier leichtgewichtiger Zehnsekünder aus Ralph Vaughan Williams Epilog zur Oper „Hiob“ immer wieder anders zusammensetzt. Beim Publikum stellt sich im Lauf der 42 Minuten „im Schwebezustand“ unvermeidbar jenes unwohlige, zutiefst verunsichernde Gefühl ein, das Lauren Berlant in ihrem gesellschaftsanalytischen Schlüsselwerk „Cruel Optimism“ (2011) beschreibt: in einer ausgedehnten Gegenwart festzustecken, in der es nicht mehr nach vorne, nicht mehr zurück und im besten Fall nur noch seitwärts geht.

Zurückzuführen ist dieser Zustand Berlants Gedanken folgend auf jenen „grausamen Optimismus“, der sich in den 1980er-Jahren einzustellen begann – als sich die Versprechen von politscher und sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit, von Aufstiegsmobilität und Arbeitsplatzsicherheit, von Demokratie und Fortschritt langsam aufzulösen begannen, ohne dass es jemand wahrhaben wollte. Für viele Menschen jedoch, so Berlant, ist sozialer Aufstieg tatsächlich schon längst keine Möglichkeit mehr, eher im Gegenteil: die omnipräsente Bedrohung des sozialen Abstiegs lässt die linear verlaufende Fortschrittsidee der westlichen Geschichtsschreibung, die unser Geschichtsbewusstsein seit Jahrhunderten prägt, obsolet werden – sie wurde von den zentrifugalen, selbstzerstörerischen Kräften des neoliberalen Kapitalismus durchkreuzt. Bilder wie das der „Sackgasse“, das im besten Fall noch den gegenwärtigen Moment offenhält, sind damit zur ästhetischen Metapher der Stunde geworden: „Die Sackgasse ist ein Raum der Zeit, der ohne ein narratives Genre gelebt wird. ... [Sie] ist dekompositorisch – in der ungebundenen Zeitlichkeit der Zeitspanne markiert sie eine Verzögerung, die Aktivität verlangt.“ Das Bild des „belebten Stilllebens“ wurde so zum Ausgangspunkt von „In Abeyance“: „[…] die lebendige Lähmung, die spielerische Wiederholung oder das belebte Stillleben ist zu einer Konvention der Darstellung der Sackgasse geworden.“

Musik nicht als lineare Zeitkunst mit klarer Bühnen-Publikumstrennung, sondern als performative, integrative oder improvisierte Raumkunst erfahrbar zu machen, ist auch die Prämisse des Festivals „Musik Installationen“, das Laure M. Hiendl gemeinsam mit dem Dramaturgen, Kurator und Autor Bastian Zimmermann im Juli 2022 in Nürnberg umsetzen wird. „Alles, was wir vom traditionellen Konzertformat kennen, ist einer starken linearen Dramaturgie verpflichtet, die auch aus einem linearen Geschichtsbewusstsein kommt – damit wollen wir brechen. Die Idee zu diesem Projekt verfolgt mich mittlerweile schon seit 10 Jahren und ich freue mich sehr, dass es nun funktioniert hat.“ Drei Jahre lang hat das Duo an den Anträgen für das „Festival für Raum-Zeit-Körper-Musiken“ gearbeitet und erst vor wenigen Tagen eine Zusage der Kulturstiftung des Bundes dafür bekommen. „Die Unterstützung war von vielen Seiten überwältigend. Besonders die der Stabsstelle Ehemaliges Reichsparteitagsgelände Nürnberg und deren Leiter Joachim Wagner, der diesen Un-Ort öffnen möchte, um ihn kulturell zu bespielen.“

Acht Musikinstallationen, vorwiegend durational performances über mehrere Stunden, werden im Rahmen des Festivals zu erleben sein. „Das bedeutet auch, dass die Körperlichkeit der Performer*innen in Verbindung mit dem Raum, in dem sie sich musikalisch bewegen, stark in den Vordergrund rückt. Wir als Publikum können diese Räume betreten. Es gibt dann aber nicht eine Narration, der wir folgen. Es ist bei diesen Installationen maßgeblich das Ziel, uns als Zuschauende mit einer Landschaft von Ereignissen zu konfrontieren, die uns zunächst womöglich überwältigt, angesichts derer wir uns dann aber notgedrungen entscheiden müssen, wohin wir unsere Wahrnehmung lenken. In diesen Augenblicken ist es oft die Körperlichkeit der Performer*innen, die uns einlädt, in ein Verhältnis mit ihnen zu treten. Das kann partizipativ sein, interaktiv, vielleicht sind die Körper auch wie bewegte Skulpturen. Ich denke da zum Beispiel an die Arbeiten des Choreografen Tino Sehgal oder des litauischen Trios Rugilė Barzdžiukaitė, Vaiva Grainytė und Lina Lapelytedė, das mit der Opern-Installation „Sun & Sea (Marina)“, in der eine Strand-Situation über viele Stunden zur Inszenierung des menschlichen Lebens wird, mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde“, resümiert Hiendl.

Eine weitere wichtige Inspirationsquelle für Laure M. Hiendl war und ist seit jeher der herausragende afro-amerikanische Denker und Komponist George Lewis, der u.a. für seine Theorien und Positionen zur Improvisation bekannt ist. „Dass ich meine Promotion an der Columbia University in New York bei ihm absolvieren konnte, war für mich enorm bereichernd“, erzählt Hiendl. In seiner Dissertation „Queer Composition. Subversive Strategies in Western Classical Music“ geht es vor allem um queeres Komponieren als politische Auffassung, der eine stark dekonstruktive, aber auch rekonstruktive Komponente innewohnt. Pauline Oliveros, weltweit bekannt für ihre „Sonic Meditations“, ist ein gutes Beispiel dafür: Durch Improvisation, elektronische Musik, Ritualität und Meditation hat sie ein Werk geschaffen, das eine Bandbreite an Visionen aufzeigt, die alle gängigen Hierarchien auf den Kopf stellen. „Ihre Kompositionen sind nicht linear, sondern performativ. Sie machen etwas mit uns. Sie verändern uns“, so Hiendl.

Auch Lauren Berlant spricht viel über das Thema Improvisation und über Krisen, die in der breiten Öffentlichkeit fast ausschließlich als die Ausnahme des Normalzustandes verhandelt werden. Doch eigentlich ist es genau umgekehrt: Die Krise ist der Normalzustand, in dem wir improvisieren müssen. Die Vorstellung von Improvisation nicht nur als musikalischer Ausdruck, sondern als etwas, das uns im Alltag permanent begleitet, hat eine starke politische Dimension. „Sowieso ist nichts nicht politisch – auch wenn es in der Musik immer noch die auf einer langen Tradition ruhende, aber durch und durch naive Vorstellung gibt, sie sei nicht politisch. An Musikuniversitäten merkt man das besonders stark, weil meist bis heute das Handwerk und weniger die kontextuelle Einbettung im Vordergrund steht. Das nachhaltig zu verändern, ist eines meiner Ziele an der Universität Mozarteum. Zunächst im Rahmen eines neuen PhD In-the-Arts-Programms, bei dessen Konzeptionierung ich mitwirke. Es wird voraussichtlich im Wintersemester 2022/23 starten.“

(Ersterschienen in den Uni-Nachrichten / Salzburger Nachrichten am 11. Dezember 2021)

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