Das Helmut-Lachenmann-Moment

11.12.2021
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Helmut Lachenmann | © Christian Schneider

Ein Porträt über den legendären Komponisten Helmut Lachenmann und ein Gespräch mit Johannes Maria Staud zu den geplanten Helmut Lachenmann Tagen an der Universität Mozarteum.

Johannes Maria Staud | © Priska Ketterer

Helmut Lachenmann hat viele Kämpfe geführt, die wir nicht mehr führen müssen. Seine Arbeit hat für uns nachkommende  Komponist*innen vieles leichter gemacht.

— Johannes Maria Staud

Helmut Lachenmann kann ruhigen Gewissens als einer der bedeutendsten Komponist*innen der Gegenwart, der experimentellen Avantgarde und als Meister des Geräuschhaften bezeichnet werden. Sein Aufbegehren gegen den „ästhetischen Apparat“, gegen den reinen Wohlklang der Musik zu einer Zeit, in der das Gewohnte den Schönheitsbegriff definierte, war mehr als revolutionär. An die Stelle aller konventionell erzeugten Töne bringt Lachenmann ein ganzes Universum an Geräuschen: Kratzen, Atmen, Schaben, Zischen, Innehalten, ein Abtasten der Nischen und Zwischenräume der Musik. Entscheidend für seine kompositorische Entwicklung und die Fähigkeit, das Vertraute stets in Frage zu stellen, waren die musikalischen Begegnungen bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik 1957 mit John Cage und mit Luigi Nono, dem er als sein einziger Schüler nach Venedig folgte.

Bereits im vergangenen Jahr, anlässlich Helmut Lachenmanns 85. Geburtstag, plante die Universität Mozarteum gemeinsam mit der Stiftung Mozarteum im Rahmen der DIALOGE 2020 ein umfassendes Programm mit dem legendären Komponisten. „Dann hat die Pandemie zugeschlagen. Wir waren
uns aber einig, das für letztes Jahr geplante Programm 2021 als Koproduktion erneut auf die Beine zu stellen. Es wäre eine wirklich schöne Geschichte geworden, mit Lectures, öffentlichen Proben, Aufführungen von Kammermusikstücken mit Helmut Lachenmann, Studierenden und mit dem
oenm. Leider mussten wir auch dieses nun absagen“, bedauert Johannes Maria Staud, der maßgeblich an der Organisation und Planung beteiligt war. Obwohl der Komponist und Universitätsprofessor für Komposition an der Universität Mozarteum in seiner Arbeit eine andere Ästhetik verfolgt, hat Helmut Lachenmann auch ihn und seine Generation geprägt. Lachenmann befreit in einer mehrdimensionalen, perspektivischen Auseinandersetzung die Wahrnehmung und strukturiert sie neu und durchdacht. Ein kritisches Statement mit der Sprache der Musik: „Helmut Lachenmann hat viele Kämpfe geführt, die wir nicht mehr führen müssen. Seine Arbeit hat für uns nachkommende Komponist*innen vieles leichter gemacht. Er ist eine epochale Figur“.

Mit 86 Jahren ist Helmut Lachenmann noch immer authentisch und neugierig. Er ist derzeit in ganz Europa unterwegs und „ausgebucht“, hält regelmäßig Workshops und nimmt sich Zeit, um bei Proben seiner Werke dabei zu sein. Seine Schaffensgeschichte erstreckt sich über mehr als 50 Jahre, aber auch Jahrzehnte nachdem er seine großen Werke komponierte, steht er den Musiker*innen mit Tipps und Anregungen zur Seite: Im Mittelpunkt steht für ihn die Vermittlung von Wissen und Denkweisen. „Er ist ein wunderbarer Pädagoge, er kann unglaublich spannend reden. Die Musikgeschichte wäre ohne ihn anders verlaufen. Er hat alle Geräuschwelten etabliert, hat wahnsinnig viel erfunden und notationsmäßig festgelegt – deshalb ist er nicht nur für Studierende inspirierend, sondern für alle komponierenden Menschen auf dieser Welt. Er war selbst lang Professor für Komposition in Stuttgart und hat sehr viele Komponist*innen mit seiner Arbeit maßgeblich geprägt“, erzählt Johannes Maria Staud. 

Helmut Lachenmann steht exemplarisch für den modernen Fortschrittsbegriff, ein zutiefst experimentelles Herangehen an das Aufbrechen von Bequemlichkeiten und Gewohntem: Bei der Aufführung seiner „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ 1980 in Donaueschingen wurde das Publikum angesichts des hochkonzentrierten Orchesters auf dem Podium, dessen Instrumente nur Rauschen, Zischen und Schaben von sich gaben, zunehmend unruhig. Erste Lacher, Gejohle, ein signalisiertes „Spielt doch bitte endlich!“.
Dabei hatte das Konzert längst begonnen. Helmut Lachenmann unterbrach mit einem lauten „Stop! Bitte hören Sie zuerst das Stück bis zum Ende und protestieren Sie dann“, und die Musiker*innen begannen noch einmal von vorn. Ab diesem Moment hörte das Publikum gefesselt zu. Auch Johannes Maria Staud ist dieser Fortschrittsgedanke „nicht unsympathisch“, wie er sagt. Musik sei eben kein Zuckerl, sondern eine Tätigkeit, die man intellektuell ausübt und um die man auch kämpfen müsse. „Man merkt bei Lachenmanns späteren Werken schon eine Freude an der Verständlichkeit ohne aber die Radikalität des Anspruchs zu verwässern. Alles, was er macht, macht er voll und ganz. Und verlangt natürlich eine volle Anteilnahe sowohl seiner Zuhörerinnen und Zuhörer als auch der Interpretinnen und Interpreten.“ Erst diese Anteilnahme führt zum großen Erlebnis, wie auch Elisabeth Gutjahr mit höchster Wertschätzung für Helmut Lachenmann auf einen seiner größten Erfolge blickt: „Walter Benjamin wird der Gedanke zur künstlerischen Schönheit als versöhnliche Beerbung des schrecklichen Mythos, Brechung und Rettung zugleich zugeschrieben und kaum ein Komponist des 20. Jahrhunderts kommt in seinem Werk einer Entsprechung so nahe. Besonders in seiner Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern' gelingt eine atemberaubende Versöhnung: Das todtraurige Märchen von Andersen, die todtraurige Geschichte einer Gudrun Ensslin – wie Lachenmann aus einer schwäbischen Pfarrersfamilie entstammend, kaum jünger als er, ebenfalls hochbegabt und aufhorchend –, verbinden sich mit Texten Leonardo Da Vincis, Ernst Tollers und Friedrich Nietzsches in einer musikalisch völlig eigenmächtigen Welt. Hier wird scheinbar unmusikalisches Geräusch so wertschätzend behandelt wie der edelste Klang, Atemholen und Luftzug bemerkenswerte sinnliche Momente des musikalischen Geschehens. Schon seine Werke Consolation I + II für Vokalensemble ließen ahnen, dass es Lachenmann einst gelingen könnte, dem Engel der Geschichte die Hand zu reichen.“

Die radikale Durchdachtheit seiner Werke, die höchst präzisen Kompositionen und das exakte Nachzeichnen, wie Klänge entstehen, sind charakteristisch für das Klangrepertoire, aus dem die Lachenmann’sche Welt erbaut ist. Ein Universum, das dem Weiterdenken und Weitergehen verschrieben
ist und das – immer auch versehen mit einer gesellschaftspolitischen Note – einen optimistischen Ausblick auf eine bessere Welt gibt. Auch wenn es so manche Interpretinnen und Interpreten oder Zuhörerinnen
und Zuhörer erst gehörig erschüttert. So wie Lachenmann selbst 1954 bei einer Matinee von John Cage und David Tudor in den Grundfesten seiner damaligen musikalischen Welt erschüttert wurde. Die „Angstlosigkeit“ der Komponisten bestärkte ihn in seiner eigenen Arbeit. „Die Momente, in denen
man alles hinterfragt, was man selbst so treibt, so Momente gibt es immer wieder. Und ich würde durchaus sagen, das ist das ,Helmut-Lachenmann-Moment‘. Eine Musik zu schreiben, die mit ganz anderen Parametern funktioniert – das ist eine Musik, die ihre eigenen Gesetze baut. Helmut Lachenmann
hat ein bilderstürmerisches Moment mitgebracht, dieses revolutionäre Potenzial liegt ihm.“

Wird es einen Ersatztermin für die Helmut Lachenmann Tage an der Universität Mozarteum geben? „Sobald es die Zeiten erlauben, wollen wir Helmut Lachenmann in Salzburg begrüßen. Wir hoffen auf 2022“, blickt Elisabeth Gutjahr optimistisch in die Zukunft. Und auch Johannes Maria Staud ortet großes Interesse: „Für viele Studierende bei uns ist Helmut Lachenmann eine Kultfigur, es gibt von vielen Seiten viel Engagement. Wir arbeiten daran und tun unser Bestes, das Programm nachholen zu können.“

(Ersterschienen in den Uni-Nachrichten / Salzburger Nachrichten am 11. Dezember 2021)

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