Verträumt, gestisch, verwoben, humorvoll - oder ein chaotisches Gewusel

Tina Geroldinger, eine junge österreichische Komponistin und Maurycy Hartmann, Klarinettist und Gründungsmitglied des Ensembles für zeitgenössische Musik im Gespräch über den neuen Klangkörper, Chancen und Möglichkeiten für zeitgenössische Musik in der gegenwärtigen Musikwelt und über besondere Momente, die entstehen, wenn man sich musikalisch intensiv aufeinander einlässt.
Tina, du studierst seit dem Studienjahr 2024/25 Komposition bei Sarah Nemtsov und komponierst für das Ensemblekonzert im Mai ein neues Werk, das im gemeinsamen Probenprozess mit den Musiker*innen und Kai Röhrig, dem Leiter des Ensembles, erarbeitet wird. Mit welchen Wünschen und Erwartungen gehst du auf dieses Projekt zu?
Tina: Dieses Projekt beginnt mit der Erforschung und Entwicklung meiner eigenen Sprache, bestehend aus multimedialer- und sensorischer Vernetzung von Impulsen. Das Ensemblestück soll der Startpunkt für eine längerfristige über das Projekt hinausgehende Auseinandersetzung damit sein. In dem Zusammenhang sind der Prozess und das Entdecken für mich das eigentliche Highlight. Es ist wichtig, bereits im frühen Stadium der Komposition – bei der Ideenfindung und Formulierung – im Austausch mit den Musiker*innen zu sein. Sie als individuelle Menschen kennenzulernen, sich davon inspirieren zu lassen, auf besondere Qualitäten einzugehen und nicht bloß ein weiteres Stück für Streichquartett, Bläser und Klavier zu schreiben. Die Musiker*innen nicht wie mechanische Puppen agieren zu lassen, sondern sie bewusst durch meinen Klangkosmos zu leiten. Im optimalen Fall entsteht dadurch eine besondere Intensität mit unsichtbaren Funken.
Wir möchten gerne einen Blick in deine „Kompositionswerkstatt“ werfen: Wie sieht bei dir die Erschaffung eines neuen Werkes aus? Gibt es zwingende Voraussetzungen für dich, um ein neues Werk zu beginnen, oder können Kompositionen auch „passieren“?
Tina: Die Musik beginnt dann, wenn’s ruhig wird und entsteht aus vielen Impulsen und Fragen heraus. Aber nur ein paar davon entwickeln sich zu Kompositionen. Es muss etwas sein, was mich über einen längeren Zeitraum packt, wo ich mich stundenlang in ein kleines Detail graben und das aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann. Ausgehend von einer Gesamtcharaktervorstellung folgt eine intensive detaillierte Klangrecherche einzelner Elemente dieses Gesamtbildes. Komponieren bedeutet für mich stets neugierig zu sein, zu experimentieren, und immer wieder nach neuen Formen, Formulierungen, Techniken, Materialien etc. zu suchen, um meine Klangvorstellungen so präzise wie möglich realisieren zu können.
Du komponierst seit deinem 15. Lebensjahr und warst bereits auf vielen namhaften nationalen und internationalen Festivals für zeitgenössische Musik eingeladen: Welchen Stellenwert nimmt zeitgenössische Musik deiner Ansicht nach aktuell ein? Wie nimmst du die Musiklandschaft in Österreich in Hinblick auf zeitgenössische Musik wahr?
Tina: Ein paar Gedanken zu dem Thema „Öffnung der zeitgenössischen Musik“: Ich als junge Komponistin habe die Erfahrung gemacht, dass wir hier in Österreich im Vergleich zu manch anderen europäischen Ländern in Bezug auf Förderungen zeitgenössischer Musik, Angebote und Ausbildungen, Möglichkeiten mit professionellen Ensembles zu arbeiten, in einer sehr privilegierten Situation sind. Eine Herausforderung, die sich dieser Szene schon länger stellt und mitunter über die Zukunft der Entwicklung der zeitgenössischen Musik entscheidet, ist es, aus dem institutionellen Korsett auszubrechen, sich zu öffnen und auch mit den Menschen außerhalb der Szene in Kontakt zu treten. Es gibt bereits großartige Angebote, um den Zugang zu abstrakteren Klangwelten zu erleichtern. Dafür sind aber nicht nur die Musikvermittler*innen und Institutionen verantwortlich, sondern auch wir Komponist*innen. Wo ich noch viel Potential sehe, ist eine bessere Vernetzung und Kommunikation zwischen Komponist*innen, Amateurmusiker*innen und Musikschüler*innen – basierend auf einer Bereitschaft von beiden Seiten, sich vorurteilslos und mit Neugierde zu begegnen. In den letzten Jahren habe ich an verschiedenen Projekten in Oberösterreich die schöne Erfahrung machen dürfen, dass Musiker*innen von jedem noch so ungewohnten Klang überzeugt werden können, wenn die eigene Vorstellung durch narrative oder visuelle Elemente greifbar gemacht werden kann, eine Prise Humor mit dabei ist und eine entgegenkommende zwischenmenschliche Interaktion in der Probenphase gegeben ist.
Was ist Kunst für dich? Woher nimmst du die Inspirationen?
Tina: Für mich ist Kunst eine Lebensform. Das Potenzial für Kunst ist in jedem Moment des Lebens präsent, selbst in den kleinsten Alltagsdingen. Als Künstlerin sehe ich es als meine Aufgabe, diese Momente mit meiner Leidenschaft einzufangen, zu reflektieren und in einem ästhetischen „Etwas“ zu bündeln. Dieser Prozess ist sehr persönlich und führt bspw. zu einer neuen Komposition, die von anderen Individuen rezipiert werden kann. Diese können wiederum selbst beurteilen, ob es sich dabei um Kunst handelt. Das ist doch das Schöne an der Kunst: Die Vielfalt.
Wie würdest du deine Klangsprache beschreiben?
Tina: In Bezug auf meine letzten Werke würde ich meine Klangvorstellungen folgendermaßen beschreiben: Mein eigener Klangkosmos besteht aus vielen kleinen präzisen Details, der mit Inhalt gefüllt wird. RÄUME in RÄUME schaffen. Eine feine, fragile, leise Klangsprache, die durch ihre Dichtheit eine besondere Intensität und Stärke bekommt. Verspielt und verträumt, gestisch, wirr, flatternd, verwoben, manchmal humorvoll, oder ein chaotisches Gewusel – mit feinen Abstufungen von Farben und Schimmern. Teils mit theatraler-performativer Note und außermusikalischen Elementen wie Bewegung, visuelle Installationen, …
Maurycy, als Gründungsmitglied des Ensembles warst du bei allen Projekten im vergangenen Jahr beteiligt. Das reicht vom Gründungskonzert über Absolventenkonzerte bis zur Opernproduktion Dichterliebe von Christian Jost diesen Jänner. Wie fällt dein Resümee bisher aus? Welche Erfahrungen hast du bisher gemacht?
Maurycy Hartmann: Das Ensemble ist seit unserem ersten Treffen definitiv gewachsen. Das erste Konzert war für uns alle sehr anstrengend, wir mussten unseren gemeinsamen Workflow erst entdeckten. Die Aufführung zeitgenössischer Musik stellt eine besondere Herausforderung an unsere individuellen technischen Fähigkeiten dar, was die Aufmerksamkeit von der Arbeit als Teil des Ensembles ablenken kann. Wir haben intensiv an unserer eigenen Ensemble-Identität gearbeitet, die bei der Arbeit mit Komponisten sehr wichtig ist. Ich denke, wir haben seit der Gründung des Ensembles im Frühjahr 2024 ein großes Wegstück zurückgelegt: wir haben einen einzigartigen und organischen Probenstil entwickelt, der die Vorbereitung der Konzerte weniger anstrengend und effizienter macht. Das liegt zum einen am hohen Niveau der individuellen Fähigkeiten der Musiker, zum anderen am Vertrauen, das wir in die Fähigkeiten der anderen haben. Es ist schön, dass Kai Röhrig in seiner Funktion als musikalischer Leiter des Ensembles großes Vertrauen in uns Musiker hat. Die Opernproduktion Dichterliebe war ein Highlight für das Ensemble. Es ist ein besonderes Vergnügen, an einem szenischen Stück zu arbeiten, weil die Assoziationen, die die Musik hervorruft, direkter angesprochen werden, sodass wir tatsächlich „sehen“ und besser verstehen können, worüber wir spielen. In diesem Projekt wurde bereits sichtbar, dass wir viel schneller zusammenarbeiten (die geplante Probenzeit führte viel schneller zu tollen Ergebnissen als bei früheren Projekten des Ensembles).
Was hat dich dazu veranlasst, Teil dieses Ensembles zu werden? Was ist für dich das „Besondere“ an der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik, aber auch an diesem Ensemble?
Maurycy: Um mich auf meinem Instrument fließend ausdrücken zu können, muss ich meinen Kopf für alle möglichen Klänge öffnen. Zeitgenössische Musik ist für mich sehr inspirierend, weil sie die Regeln bricht, die wir gewohnt sind – Regeln wie „schöne“ Klänge, „gewohnte“ Harmonien oder der „richtige“ Groove. Vermutlich würden mir die meisten Musiker*innen zustimmen, wenn ich behaupte, dass sich nach der Arbeit an einem intensiven zeitgenössischen Projekt Mozart wie die einfachste Sache der Welt anfühlt. Das liegt daran, dass wir wieder unserer Intuition folgen können, anstatt (manchmal) gegen sie zu arbeiten. Es ist sehr bereichernd, sich in diese Lage zu versetzen, und im Idealfall schafft man es, das Publikum mitzunehmen in ein ähnliches, intuitives Gefühl, das die Grenzen der Musik überschreitet und uns alle aufgeschlossener macht. Unser Ensemble ermöglicht es mir, diese Werte in einer Gruppe zu erleben und zu testen. Es ist mein erster Versuch, mich mit zeitgenössischer Musik auseinanderzusetzen. Das Ensemble ist für mich also auch ein Ort des Lernens.
Mit den Erfahrungen der vergangenen Projekte im Hinterkopf: Welche Entwicklung wünscht du dir als Musiker für das Ensemble?
Maurycy: Das, worauf wir hingearbeitet haben und was wir bis jetzt erreicht haben, ist die Professionalität. Ich hoffe, dass wir in Zukunft noch selbstbewusster werden und neue Wege finden, um Spaß an der oft stigmatisierten zeitgenössischen Musik zu haben. Bei Christian Josts Dichterliebe war das einfach: Da es sich um ein bereits bekanntes Werk eines renommierten zeitgenössischen Komponisten handelte, war es viel einfacher, den Stil und die Absicht zu verstehen. Ich wünschte, wir könnten ein solches Verständnis auch erreichen, wenn es um die Aufführung ganz neuer Stücke unserer Komponist*innenkollegen an der Universität Mozarteum geht. Es ist sehr inspirierend für Musiker*innen, Teil des Entstehungsprozesses zu sein und ich denke, der unmittelbare Austausch ist auch für die Komponist*innen sehr informativ und bereichernd. Durch die enge Zusammenarbeit entsteht ein sehr persönliches Musikerlebnis geprägt von gegenseitigem Vertrauen. Ich freue mich auf die nächsten Projekte und den gemeinsamen Prozess, in dem Fragen, Anregungen und Ideen von beiden Seiten diskutiert werden, um gemeinsam etwas ganz Besonderes zu schaffen.
Wenn du das Ensemble mit drei Worten beschreiben müsstest, welche wären das?
Maurycy: Fresh, hardworking, dynamic!