Über das Memorieren in der Musik

07.12.2023
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Elisabeth Eder mit Gedächtniskarten | © Christian Schneider

Das Auswendiglernen von Musik spielt für Instrumentalist*innen eine wichtige Rolle und wurde bislang nur wenig erforscht. Elisabeth Eder nahm sich in ihrer Dissertation des Themas an und konnte 100 Lernstrategien ermitteln bzw. kategorisieren und Aspekte zeigen, die das Auswendiglernen unterstützen. 

Fast alle Musiker*innen werden in ihrer musikalischen Laufbahn mit dem Memorieren von Werken konfrontiert. Für zahlreiche Wettbewerbe, Prüfungen und solistische Darbietungen gilt das Auswendigspiel heutzutage als Pflicht, ganz im Gegensatz zur Barockzeit und zur Zeit der Wiener Klassik, in denen es nicht üblich war, auswendig zu spielen. Häufig wird verlangt, ein Stück auswendig zu lernen, aber selten erhalten die Lernenden eine Hilfestellung zur Vorgehensweise. Dies bestätigte auch Elisabeth Eders Vorstudie zur Überprüfung der Aktualität und Relevanz des Themas, an der 111 Instrumentalist*innen teilnahmen. Im Rahmen einer groß angelegten empirischen Studie beschrieben 1091 Musiker*innen aus 64 verschiedenen Ländern, wie sie memorieren, also sich an etwas erinnern bzw. aus dem Gedächtnis aufrufen. Ferner bewerteten die Teilnehmer*innen der Studie ihre Lernstrategien und begründeten ihre Wahl hinsichtlich des Effektivitätsgrades. Auf Basis der Studie und instrumentalpädagogischer Fachliteratur wurden 100 Lernstrategien ermittelt bzw. kategorisiert, die Strategien bezüglich ihrer Effektivität untersucht sowie instrumentenspezifische, altersspezifische, länderspezifische, geschlechtsspezifische und ausbildungsbezogene Unterschiede und Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Wahl der Lernstrategien erforscht. Viele der Lernstrategien lassen sich auf andere, außermusikalische Lernsituationen übertragen, wie Eder überzeugt ist.

Die Ergebnisse zeigten Unterschiede in den bevorzugten Memorierstrategien, die zwischen Pianist*innen und Musiker*innen von Melodieinstrumenten wie Flöte und Geige besonders hervortraten. Geschlechtsspezifisch waren keine signifikanten Unterschiede beim Auswendiglernen feststellbar. Interessant ist, dass mehr Lernstrategien eingesetzt werden, je höher der Ausbildungsgrad ist. Zudem zeigten sich kulturelle und instrumentenspezifische Traditionen, ob und in welchem Ausmaß auswendig gespielt wird. Während Pianist*innen berichteten, dass es eine ungeschriebene Regel sei, alle Solostücke im Konzert auswendig vorzutragen, schilderten Blechbläser*innen, dass sie nur sehr selten auswendig spielen (müssen). Musiker*innen aus diversen osteuropäischen Ländern und aus Japan sehen es als Selbstverständlichkeit an, auswendig zu spielen. Die am häufigsten eingesetzten Lernstrategien sind das „Lernen in Einheiten“, „die Analyse und das Hintergrundwissen“ – beide werden über alle Kontinente verteilt am häufigsten genutzt – sowie „die Wiederholung“, „die kanalreduzierte Wahrnehmung“ und „auditives Lernen“. Musiker*innen, die ihre Vorgehensweise in der Studie als effektiv einschätzen, verwenden mehr und differenziertere Lernstrategien als jene, die ihre Vorgehensweise als nicht oder wenig effektiv beschrieben. Begründungen hinsichtlich ihrer Wahl des Effektivitätsgrades sind u. a. das Sicherheitsgefühl beim Memorieren und beim Vortrag auf der Bühne, der zeitliche Aufwand, die Speicherdauer im Gedächtnis, Routine bzw. mangelnde Routine, Wissen bzw. fehlendes Wissen über Lernstrategien und besondere Begabungen wie absolutes Gehör, fotografisches Gedächtnis und synästhetische Begabung. 

Eher selten angewandte Lernstrategien sind hingegen das „Lernen mit und über Farben“, die „ikonische Reproduktion“ (Aufschreiben der Noten aus dem Gedächtnis), „Lernen mit und über Bewegung“ sowie „Mnemotechniken“, wobei gerade Mnemotechniken aufgrund ihrer Effektivität interessant sind. Hierzu zählt das Ankerpunkte-System, das zwar nur von 5,37 Prozent aller Befragten verwendet wird, von diesen aber als höchst effektiv beschrieben wurde, wie Elisabeth Eder erklärt, die diese Strategie in London an der Guildhall School of Music and Drama kennenlernte. Für sie sei es auch ein wertvolles System, das Auswendiggelernte zu überprüfen, was ein Gefühl der Sicherheit vermittle. Diese Erfahrung war es schlussendlich auch, die sie zu ihrem Dissertationsthema führte. Mnemotechniken sind Merkhilfen, die einen Erinnerungsinhalt mit einer Erinnerungsstütze (Mnemonik) verknüpfen. Neue Informationen oder Informationen, die für sich kaum oder keine Bedeutung haben, werden strategisch mit gespeicherten Informationen (z. B. Wörtern, Bildern, Nummern, Namen) des Langzeitgedächtnisses verbunden. Die lernpsychologische Funktion besteht darin, eine Assoziation eines außermusikalischen Ankers x mit einem musikalischen Inhalt herzustellen. Ankerpunkte dienen unter anderem dazu, an persönlich festgelegten Stellen jederzeit (wieder) einsteigen zu können. Eine sehr effektive Möglichkeit zum Auswendiglernen und das Auswendiggelernte zu überprüfen, ist der Einsatz von sogenannten Memory Cards (Gedächtniskarten). Memory Cards sind nach der Ankerpunkte-Strategie aufgebaut. Ein Musikstück wird durch das Erstellen von Gedächtniskarten in Abschnitte unterteilt. Ziel ist es, bei den einzelnen Abschnitten mühelos und bei Harfenist*innen zusätzlich mit richtiger Pedalstellung – es gibt 1287 verschiedene – jederzeit einsteigen zu können. Dabei beginnt das Auswendiglernen bereits beim Erstellen der Memory Cards durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema. 

Neben dem Erforschen von Lernstrategien zum Auswendiglernen von Musik beschäftigte sich Eder mit Gedächtnisformen und -modellen bzw. damit, wie musikbezogene Informationen gespeichert und abgerufen werden können und auch wieder vergessen werden. Sie zeigte, dass sich die Speicherung und der Abruf von musikbezogenen Informationen auf vielfältige Weise erklären lassen, beispielsweise durch den Bewusstseinsgrad, die Speicherdauer, die Sinneskanäle, die Art der Information, die Enkodier- und Abrufsituation u. v. m. Es wird deutlich, dass die Art und Weise, wie gelernt wird, für die Speicherung und den Abruf von Informationen entscheidend ist. Lehrende können ihre Schüler*innen unterstützen, indem sie neben sinnvollen Lernstrategien weitere Aspekte des erfolgreichen Auswendiglernens vermitteln. Dazu zählen regelmäßiges Üben und Memorieren, Pausen und Schlaf, Entspannung, die das Gehirn leistungsfähiger macht, Emotionen, die eine aktivierende oder hemmende Wirkung haben können, sowie seelische und körperliche Befindlichkeiten. Weiters sind das Wissen über die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, die Vermeidung des „Penelope-Effekts“ (durch übertriebenes Üben) und der Einübung von Fehlern sowie das Festlegen realistischer Ziele und wie sie erreicht werden können, von Bedeutung.

Durch Aufforderungsreize, Stimulusvariation und Hinweisreize kann wesentlich dazu beigetragen werden, dass Schüler*innen ihre Aufmerksamkeit auf die für das Memorieren relevanten Informationen lenken. Informationen sollten möglichst viele Sinneskanäle ansprechen, um eine vertiefte Informationsverarbeitung zu erzielen. Das Wissen wird dadurch auf vielfältige Art und Weise abgesichert und die Gefahr vor Gedächtnislücken um ein Vielfaches reduziert. Neben all diesen Aspekten sei die Vermittlung von Wertschätzung und der Glaube an die Fähigkeiten der Lernenden bedeutend. Es gilt als empirisch gesichert, dass Schüler*innen, die von der Lehrperson als leistungsstark eingestuft werden, unabhängig von ihrer Begabung und ihren bis dahin gezeigten Bemühungen auch bessere Leistungen erbringen. 

Das Themengebiet lässt noch viel Raum für weitere Forschungsarbeiten, vom historischen über den vergleichenden Kontext bis hin zu experimentellen Bereichen. Eder zeigt sehr viele verschiedene Lernstrategien, für das Endresultat macht es aber einen erheblichen Unterschied, für welchen Weg man sich entscheidet bzw. welche Lernstrategien man einsetzt. Rein „mechanisches Lernen“, also reines Wiederholen, ohne den Sinn zu erfassen, führt meist nach kurzer Zeit zu Gedächtnislücken. Eine aktive Bearbeitung von Gedächtnisinhalten, die dem Verständnis von Musik dient, und Verknüpfungen mit möglichst vielen Sinneswahrnehmungen führen hingegen zu einer tiefen Assimilation. Neu Gelerntes ist dadurch schneller verfügbar und langfristig sicherer abgespeichert. Es kann daher sehr lohnenswert sein, auch andere, neue Wege auszuprobieren.

 

(Ersterschienen in den Uni-Nachrichten / Salzburger Nachrichten am 2. Dezember 2023)

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