Bazar der Neuen Musik: 100 Jahre IGNM

04.03.2022
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Historisches schwarz-weiß Foto einer Gruppen von Menschen von 1922 | © King's College Cambridge Archive, EJ Dent Papers

Der Salzburger Akkord: Im Jubiläumsjahr „100 Jahre Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM)“ reflektiert ein vielfältiges Programm ihre Rolle als großes Friedensprojekt nach dem 1. Weltkrieg, auf die Rolle Salzburgs als internationale Stadt der Zwischenkriegszeit und den zeitlosen Anspruch der Neuen Musik, das Zuhören (wieder) neu zu lernen.

Historisches schwarz-weiß Foto, großes Gebäude, mit Schriftzug "Cafe Bazar" auf einem Turm | © Stadt Archiv Salzburg, Fotoatelier Würthle 1929

Die Geschichte der IGNM ist eine Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts und jene des ersten Friedensprojekts in der Musik.

— Matthew Werley

Es war die Geburt einer zukunftsweisenden, völkerverbindenden Idee, die 1922 im Café Bazar in Salzburg ihren Anfang nahm: die Gründung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) als Interessensvertretung der Komponistinnen und Interpreten zeitgenössischer Musik. Fast genau 100 Jahre später sitzt der Musikwissenschaftler Matthew Werley an einem Tisch im Café Bazar und blickt gleichermaßen zurück wie nach vorne in die Entwicklung der IGNM und der Neuen Musik in Salzburg: „Die Geschichte der IGNM ist eine Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts und jene des ersten Friedensprojekts in der Musik. Das A und O war die moralisch-ethische Einstellung, dass die Kunst über der Politik steht. Gesellschaften ändern sich und passen sich an die Zeit an, die IGNM hatte und hat eine internationale Aufgabe gegenüber der Welt, der Politik und der internationalen Zusammenarbeit.“

Warum die Gründung der IGNM ausgerechnet in Salzburg stattfand, lag nicht nur am Status der Festspiele und der damit einhergehenden Internationalität an Gästen. Als geografisch optimal gelegene Grenzgängerstadt mit ihren imposanten Bergen im Süden und ihrer ausladenden Öffnung in Richtung Norden ist Salzburg seit jeher ein perfekter europäischer Mittelpunkt. „Es gab die ‚Salzburger Idee‘, den Gedanken, dass Salzburg ein kultureller Heilort sei, ein Platz, wo sich alle auf neutralem Boden treffen und sich – durch die Künste – gegenseitig zuhören konnten. Salzburg bot eine Tabula Rasa, es gab keine radikalisierenden oder ideologisierenden Strömungen, die ein Miteinander erschwerten. Es war einfach eine Festspielstadt und wurde von den Musikerinnen und Musikern als bestes Stück Österreichs gesehen. Damals wurde auch Richard Strauß als Österreicher bezeichnet“, erzählt Matthew Werley lachend. Tatsächlich erlebte die Mozartstadt nach dem 1. Weltkrieg im touristischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben einen Boom, ganz besonders im Bereich der Musik. „Die Neue Musik hat eine Wahlverwandtschaft zu Mozart. Es ist das Spektrum der Ästhetik, das sich auch in den beteiligten Personen bei der IGNM zeigte: Anton Weber, Rudolf Réti, Paul Hindemith, Hugo Kauder, Ethel Smyth, Arthur Bliss … Das Spektrum der Musik war sehr breit, es gab alle möglichen Stilrichtungen. Hauptpunkt international.“

Unter dem Titel „Achtung International!“ widmet sich die IGNM gemeinsam mit der Universität Mozarteum, dem aspekteSALZBURG Festival und den Salzburger Festspielen, mit Unterstützung durch Stadt und Land Salzburg und dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung der 100-jährigen Geschichte einer Gesellschaft, die die durch zwei Weltkriege zerrissenen Fäden der europäischen Identität und Kultur in Salzburg wieder zusammenknüpfte und die den Gedanken einer notwendigen Internationalität in die Neue Musik übernahm. „Als Max Reinhardt oder Stefan Zweig nach Salzburg kamen, wollte gerade jeder aus Wien weg. Hermann Bahrs Gedanken über Salzburg als Hauptstadt Europas, als ‚Ghetto der Kosmopoliten‘ war sehr präsent. Mit seiner Barockarchitektur und seiner Stimmung war Salzburg ideal für Künstler und Künstlerinnen jeder Art – und für eine Gesellschaft, die unter den Kriegsumständen massiv gelitten hatte.“

Die „Salzburger Idee“ der IGNM, wie sie von zweien ihrer Gründer, Rudolf Réti und Egon Wellesz formuliert wurde, war aber nur einer ihrer Aspekte. Matthew Werley, der im Rahmen des Jahresprogramms zu 100 Jahren IGNM gemeinsam mit Thomas Hochradner die Internationale Fachtagung „Wegzeichen Neuer Musik“ konzipierte und umfassende Recherchearbeiten leistete – dessen Betreuer in Oxford übrigens Egon Wellesz als Doktorvater hatte –, spricht vom „Januskopf“ der IGNM: „Zum Zeitpunkt der Gründung hatte die Gesellschaft einen diplomatischen Zweck: Menschen zusammenzubringen und Musik zu hören, die vier oder fünf Jahre zuvor noch verboten war. Die IGNM war ein Projekt des (neuen) Hörens. Auch heute ist das Zuhören, das Einander-Verstehen im Gesellschaftlichen wie Politischen wichtig. Diese Idee gab es schon in der Antike, das Hören als Übung für den politischen Bereich. Nach dem 2. Weltkrieg zeigte die Gesellschaft dann ein anderes Gesicht: Diese hochmoderne Musik zur Förderung von jungen Komponisten und Komponistinnen zu öffnen, alte Muster aufzubrechen und Neues zu finden.“ Am Flyer für „Achtung International!“ wurde ein Zitat von Ernest Newman, dem einflussreichsten Musikkritiker Großbritanniens in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts, über Salzburg und Neue Musik abgedruckt. Er hörte, dass die britischen Musik- und Kunstinteressierten im Sommer nach Salzburg fuhren, um ihren geliebten Wagner oder Mozart zu hören. „[…] Der neue Geist ist viel abenteuerlicher. Er geht nach Salzburg, nicht um Musik zu hören, die er liebt und kennt, sondern um Musik zu hören, die er nicht kennt, in der Hoffnung, dass etwas davon wert sein möchte, geliebt zu werden. […] Eine große musikalische Epoche ist abgeschlossen. Eine neue scheint sich zu bilden.“

Erste Gespräche zu den Aktivitäten im Jubiläumsjahr der IGNM fanden bereits Anfang 2020 statt. Aufgrund der Nähe und dem Umstand, dass viele Materialien pandemiebedingt nicht zugänglich waren, stehen bei dem Programm in Salzburg, die Darstellung als internationale Stadt in der Zwischenkriegszeit und die Begegnungen, die hier stattfanden, im Vordergrund.  Die globale Reichweite der Forschungsarbeit der Universität Mozarteum wird eindrucksvoll verdeutlicht: Es konnten zahlreiche Exponate aus 51 Archiven weltweit und knapp 40 international renommierte Musikwissenschaftler und Musikwissenschaftlerinnen aus 13 Ländern für das Projekt gewonnen werden. Die Ausstellung, die am 16. März im Rahmen der aspekteSALZBURG eröffnet wird, erzählt unter anderem von den ersten „Weltmusiktagen“ der IGNM und wie die Neue Musik von Salzburg aus die ganze Welt eroberte. Die Tagung von 20. bis 22. April beleuchtet die komplexe Geschichte der IGNM, ihre ästhetische Vielfalt und die sie prägenden Akteure und Akteurinnen sowie die politischen und ethischen Dimensionen, die sich seit jeher im Spannungsfeld von Salzburger Verwurzelung und globaler Vernetzung auftun. Matthew Werley wird einen Vortrag zur bedeutenden Rolle Stefan Zweigs für die Neue Musik, Salzburg und die IGNM halten. „Ich bin historischer Musikwissenschaftler. Ich bin im Dialog mit dem Alten und spüre gerne den Netzwerken und Augenblicken nach, um sie noch einmal lebendig zu machen. Ich glaube immer noch an die Stimmung im Zitat von Newman: Diese globalen Netzwerke bringen immer etwas Fremdes, Unbekanntes – und das ist jetzt normal. Es gibt genügend Material für die nächsten 100 Jahre IGNM, auf alle Fälle für uns in der Musikwissenschaft!“ (lacht)

 

Termine:

  • 16. März: Ausstellungseröffnung „Achtung International!“ im Rahmen der aspekteSALZBURG
  • 20.–22. April: Internationale Fachtagung „Wegzeichen Neue Musik“
  • 7.–16. August: ARCO 22 & Summer Academy Mozarteum
  • 7. August: Kammerkonzert „100 Jahre IGNM“ mit den Wiener Philharmonikern, Salzburger Festspiele
  • 11. August: Festakt im Café Bazar
  • 29. November: Nacht der Komponist*innen

 

(Ersterschienen in den Uni-Nachrichten / Salzburger Nachrichten am 4. März 2022)

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