Franz Billmayer (erschienen in BDK-Mitteilungen 4/05, S.10 ff)
Tunnelblick und Gipfelglück
Leserbrief
zu diesem Text von Timo Bautz
Ästhetik ist neben der Kunst die
konstituierende Kategorie der Bildnerischen Erziehung, dem Fach
für das ich
seit Oktober 2004 am Mozarteum zuständig bin, dieser Begriff hat
mir immer
Schwierigkeiten gemacht.
Meine Schwierigkeiten hängen damit zusammen, dass Ästhetik
und das davon abgeleitete „ästhetisch“ ganz Verschiedenes bedeuten
können, die
jeweilige Bedeutung nicht immer eindeutig aus dem Zusammenhang
hervorgeht und
folglich verschiedene Autoren ihre ganz eigenen Vorstellungen damit
verbinden.
Folgen wir der Definition, wie wir sie in Lexika finden, so ergeben
sich
folgende Bedeutungsmöglichkeiten:
1.
Im
engeren Sinne meint Ästhetik die Wissenschaft, die sich mit
Grundkategorien der
sinnlichen Erfahrung (das Schöne, das Häßliche, das
Erhabene, das Tragische,
Komische &c.) beschäftigt.
2.
Im
weiteren Sinnen ist sie die Wissenschaft von den Problemen der Kunst,
sie
untersucht die Bedingungen von Kunstwerken &c.
3.
Seit
Baumgarten, der den Begriff im 18. Jahrhundert einführte,
verstehen wir
darunter eine Erkenntnisform, die im Gegensatz zum Begriff-Rationalen
steht und
vom Konkreten, von der konkreten Erfahrung ausgeht – im Gegensatz zur
Erkenntnis durch reines Nachdenken.
4.
An
sich heißt der Begriff auf Wahrnehmung bezogen und spielt so in
die
Wahrnehmungspsychologie hinein.
Dazu kommt erschwerend, dass
ästhetisch sehr häufig offen oder verdeckt normativ verwendet
wird, im Sinne
von schön – so wie der Begriff ja auch im Alltag verwendet wird.
Viele Autoren
schreiben von ästhetischen Gegenständen und meinen damit
Kunstwerke, so als sei
„ästhetisch“ eine Wesenseigenschaft, so wie hölzern bei
diesem Tisch. Seit
Marcel Duchamp aber ist klar, dass Gegenstände durch den Gebrauch
zu Kunstwerken
werden, „ästhetisch“ also die Art und Weise einer Verhaltensweise,
nämlich der
Rezeption bezeichnet...
Fountain
von Marcel Duchamp
und dass viele aktuelle
Kunstwerke ihre Bedeutung gerade nicht aus dem wahrnehmbaren Bestand
ziehen,
sondern vor allem aus dem spezifischen Zusammenhang. Daneben sprechen
wir dann
auch noch von Alltagsästhetik, was gerade nichts mit Kunst zu tun
hat.
Über Ästhetik in qualitativer
Hinsicht und über die Frage, welchen Wahrnehmungen wir uns aus
welchen Gründen
aussetzen bzw. welche wir vermeiden sollen, wird längst nicht mehr
in
philosophischen Seminaren oder an Kunsthochschulen geredet; dafür
steht sie im
Zentrum von Lifestylediskussionen in Zeitschriften und Talkshows.
Große Teile der Gespräche, die
wir in unserer Freizeit führen, handeln von der Qualität von
Wahrnehmungsangeboten. Durch diese Mischung aus
Unschärfe und positiven Assoziationen (Schönheit, Kunst,
Geschmack) eignet sich
dieser Begriff besonders gut zur (scheinbaren) Integration
verschiedenster kunstpädagogischer
Denkansätze.
Ein Kunstpädagoge, der sagt: „In
der Bildnerischen Erziehung geht es vor allem um das
Ästhetische.“, wird von
allen Seiten Zuspruch erhalten, auch wenn der Eine eher an Kunst, die
Andere
eher an genaue und intensive Wahrnehmung und der Dritte an
Fernsehbilder und
das Erscheinungsbild von Einkaufszentren denkt. Ästhetik und
Wahrnehmung sind
neben der Kreativität der Kitt der Kunstpädagogik.
Ästhetik und Didaktik
Ästhetik im
Sinne einer Erkenntnis, die sich aus der Anschauung ergibt, wird in der
Kunstpädagogik zu Beginn der 1970er Jahre eingeführt und zur
Bezeichnung einer
eigenen didaktischen Bewegung.
In seiner
Didaktik der ästhetischen Erziehung begründet Gunter Otto
1974:
„Den Begriff ‚Ästhetische Erziehung‘ verwende ich
nicht aus Gründen der Aktualität, sondern
wegen des historischen Vorverständnisses und mit
der Absicht, einige Präzisierungen vorzunehmen:
- der Begriffsanteil ‚ästhetisch‘ signalisiert die Erweiterung im inhaltlichen Bereich. (der
Kunstpädagogik, F.B.) Ästhetisch
verweist auf generelle – nicht nur an
Kunst, nicht an ‚kulturelle‘ Werte
gebundene – Wahrnehmungs-, Realisations- und
Interpretationsweisen.
- der Begriffsanteil
‚Erziehung‘ signalisiert die Erweiterung im intentionalen
Bereich. Erziehung geht insofern über die bislang akzentuierten unterrichtlichen Informationsprozesse
hinaus, als sie an einem Generalziel
orientiert ist, das nicht nur Kenntniserwerb und Fertigkeitstraining,
sondern Verhaltensänderung fordert. Erziehung
wird hier als Oberbegriff gebraucht, der Unterricht und Lernen
einschließt.“ (Gunter
Otto, Didaktik der Ästhetischen Erziehung, Braunschweig 1974, S.
17f)
Entgegen seinen Aussagen
verwendet er den Begriff sehr wohl aus aktuellem Anlass. Was hat ihn
dazu gebracht?
Parallel und im Anschluss an das
neue Denken, das wir mit dem Schlagwort 68 und Studentenbewegung
zusammenfassen, haben junge Kunstpädagogen wie Hermann K. Ehmer,
Heino Möller
und Helmuth Hartwig den damaligen Kunstunterricht – einer der
Hauptvertreter
war just Gunter Otto – kritisiert und
komplett in Frage gestellt.
Kunstunterricht gehe mit seinen
Inhalten an den Interessen der meisten Schülerinnen und
Schüler und der
arbeitenden Bevölkerung vorbei, er sei affirmativ und
unterstütze die
herrschenden Machtverhältnisse... anstelle von Kunst, die damals
stark von
abstrakten und formalen Fragestellungen geprägt war, seien
Plakate, Filme,
Werbung, Architektur, Städteplanung &c. zum Gegenstand eines
gesellschaftskritischen Unterrichts zu machen. Das Fach sollte auch
nicht mehr
Kunsterziehung oder Kunstunterricht heißen, sondern Visuelle
Kommunikation.
Gefordert war ein vollkommener
Bruch mit der Tradition.
Mit
seiner „Didaktik der
Ästhetischen Erziehung“ versuchte Otto, die Visuelle Kommunikation
mit der
Tradition des Faches wenn schon nicht zu versöhnen, so doch
wenigstens einen
gemeinsamen Oberbegriff zu finden. Dafür bot sich die Wahrnehmung
an.
Wahrnehmung wurde die zentrale Kategorie der Ästhetischen
Erziehung. (Otto, ÄE,
S.81)
Nebenbei: damals
hätte Otto auch den Begriff Bild als gemeinsamen Oberbegriff
wählen können,
wozu sich etwa die Fachdidaktik in Schweden entschlossen hat, aber das
wäre
wohl im Anspruch zu niedrig gewesen – es ging schließlich um
Erziehung und
Bildung und in der Folge um Unterrichts- und Erkenntnisprinzip, mit
Anspruch
auf Omnipotenz.
„
Ästhetische
Erziehung umfaßt dem Begriff nach alle Bereiche der
sinnlichen Wahrnehmung und Aktion.... und zielt nicht auf ein neues
Unterrichtsfach, sondern auf ein
fächerübergreifendes
bzw.
fächerdurchdringendes Prinzip“
heißt es etwa schon 1972.
1976:
„Der ästhetische Bereich ... ist
nicht auf Kunst als tradierter Form der speziellen ästhetischen
Aktivitäten des
Menschen eingegrenzt, vielmehr wird das Ästhetische als
allgemeines Phänomen in
der Wahrnehmung und Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen
gesehen.“
Um die bildnerisch
praktischen
Traditionen des Faches unterzukriegen, wird ästhetisch nicht mehr
nur als
Wahrnehmung konstruiert – wie es die Definition im Brockhaus macht,
sondern
auch als eine Handlungsstrategie. Wer ästhetisch handelt, ist
darauf aus,
Gegenstände oder Situationen herzustellen, die ästhetische
Wahrnehmung
auslösen. Jawohl, Sie haben richtig gehört, Adelheid Sievert
unterscheidet
zwischen einer sinnlichen und einer ästhetischen Wahrnehmung.
Die sinnliche Wahrnehmung ist
das, was wir gemeinhin als Wahrnehmung betrachten: „ich sehe ...“ Die
ästhetische
Wahrnehmung ist darüber hinaus bestimmt durch den Modus: „ich sehe
etwas als
...“ Ästhetische Wahrnehmung ist also
genau genommen eine semiotische Sicht. Jede ästhetische
Wahrnehmung setzt eine
sinnliche voraus, aber nicht jede sinnliche ist eine ästhetische.
Auch Arthur
Danto unterscheidet Kunstwerke von anderen Gegenständen aufgrund
ihrer
„aboutness“. Ästhetisch in diesem Sinne wäre eine Wahrnehmung
dann, wenn ihr
Gegenstand interpretiert wird, wenn von etwas Wahrnehmbaren auf etwas
nicht
unmittelbar Wahrnehmbares geschlossen wird. Alle Zeichen müssen
wahrnehmbar
sein, so gesehen sind alle Zeichen ästhetisch, weil wir sie als
etwas sehen. Zudem
kann alles als Zeichen gesehen werden.
<>
Der Mercedes kann ein Zeichen für
Reichtum sein, aber nicht aufgrund seiner Erscheinung sondern aufgrund
unseres
Wissens über seine Kosten…
Ein weiteres Problem ist, dass
viele Kunstwerke sich heute keineswegs über ihre sinnliche
Erscheinung
erschließen.
Jeff
Koons
Seit Anfang der 1970er Jahre, als
die Idee der ästhetischen Erziehung entstand, hat sich die Kunst
weiterentwickelt,
sie ist mit ästhetisch im Sinne von sinnlicher Wahrnehmung und
Erkenntnis nicht
mehr zu fassen – wenn sie das je war. Spätestens seit der
Konzeptkunst ist
deutlich, dass der Begriff „ästhetisch“ nicht ausreicht, um alle
Erscheinungen
der Kunst unter einen Hut zu bekommen.
Viele Schwierigkeiten, die sich
aus dem Begriff "äshtetisch" ergeben!
Im Folgenden hoffe ich einige
Klärungen zu bieten, die nicht nur für die
Kunstpädagogik von Nutzen sind.
Wahrnehmen ist Interpretieren
Beginnen wir zunächst mit der
Wahrnehmung, so wie sie die Neurobiologie heute versteht. Gerhard Roth,
ein
Kognitionswissenschaftler aus Bremen, schreibt:
„Wahrnehmung
ist Interpretation,
ist
Bedeutungszuweisung.“
Wie kommt die Welt in unseren
Kopf, wie nehmen wir wahr, was wir wahrnehmen? Schauen wir uns das
einmal am
Beispiel des Sehens an. Objekte in unserer Umgebung strahlen Licht ab.
Auf der
Netzhaut entsteht eine zweidimensionale Projektion, ein Bild. Die
Netzhaut ist
an der Peripherie des Nervensystems, sie besteht aus 125 Millionen
lichtempfindlichen Zellen. Das Licht reizt die Sehzellen, dieser Reiz
wird
elektro-chemisch an das Gehirn weitergeleitet. Diese Reize lassen sich
mit
Hilfe von Apparaturen hörbar oder sichtbar machen, sie
unterscheiden sich
lediglich in der Frequenz nicht in der Intensität. Alle
Empfindungen, die aus
der Peripherie an das zentrale Nervensystem gemeldet werden, wie
Tasten, Hören,
Riechen, Schmecken, Gleichgewicht &c. beruhen auf derartigen Reizen
und sie
sind ebenso „codiert“. Die ursprünglichen Reizauslöser, die
Gegenstände, das
Licht das von ihnen reflektiert wird, &c. gehen in den
unspezifischen
Signalen dieser neutralen Sprache auf.
Das Gehirn weiß lediglich, woher
die einzelnen Reize kommen und dass Reize von der Netzhaut als Sehen
solche von
der Fingerkuppe als Tasten behandelt werden müssen.
Bau und Funktionsweise des Auges
begrenzen das Spektrum der Reize, die Netzhaut ist lediglich für elektromagnetische Wellen zwischen 400 und 700
Nanometer Wellenlänge empfindlich, sie „filtert“ aus der
möglichen Bandbreite
das sog. sichtbare Licht heraus. Allerdings stehen einer Netzhautzelle
100.000
interne Nervenzellen zur Verarbeitung der Reize gegenüber.
Die
wenigen Daten werden also extrem aufwändig interpretiert. Stellen
Sie sich vor:
Ein Brief, der in einem Finanzamt eingeht, kann von bis zu 100.000
Beamten
bearbeitet werden.
So konstruiert das Gehirn mit
Hilfe evolutionärem und biografischem Wissen die wahrgenommene
Welt. Es ist ein
Interpretationsvorgang: aus den für das Gehirn „unmittelbar“
gegebenen Daten =
Reize von der Peripherie, schließt es auf die nur mittelbar
gegebenen Anlässe
für die Reize.
Dieser Interpretationsvorgang ist
durch Wiederholung derartig eingeschliffen und automatisiert, dass wir
ihn nur
dann bemerken, wenn wir auf eine sog. Sinnestäuschung hereinfallen.
Wenn sich also eine Annahme, die
wir auf der Grundlage einer solchen Interpretation gemacht haben, als
falsch
erweist. Die meisten Vorhersagen erweisen sich als richtig und lassen
uns eine
feste und (scheinbar) objektive Welt konstruieren. – Sehen haben wir so
früh
gelernt, dass wir uns nicht mehr erinnern, dass wir die
Interpretationsregeln
lernen mussten.
Nun könnten wir sagen, die
Ästhetik fängt erst dann, wenn diese mehr oder weniger
automatisch ablaufenden
Interpretationen abgeschlossen sind, und wir dann bestimmte dieser
Wahrnehmungsgegenstände – Ergebnisse dieser automatischen
Interpretationen –
als etwas sehen... die sinnliche Wahrnehmung wäre Interpretation I
die
ästhetische Wahrnehmung Interpretation II. Eine Wahrnehmung, die
auf der
Grundlage von kulturellem Wissens und Interpretationsregeln, zustande
kommt.
Allerdings wissen wir, dass auch
die Wahrnehmungen aus den Interpretationen der 1. Stufe von denen der
2. Stufe
beeinflusst werden können. Wer malt kennt des Phänomen, dass
ein Braun je
nachdem von welcher Mischung (Braun erhält man über das
Mischen von
Komplementärfarben, rot-grün, violett-gelb, blau-orange) her
man es sieht, sich
verändert, es kann je nach Begriff, den man sich denkt die Farbe
von violett
nach grün und rot ändern. Viele der kulturell erworbenen
Interpretationsregeln
werden immer wieder angewendet und laufen beinahe so unbewusst ab, wie
die „biologischen“.
Wahrnehmung ist immer
Interpretation, eine trennscharfe Unterscheidung zwischen einer rein
biologisch
physiologischen und einer kulturell überformten lässt sich
nicht treffen.
Ästhetische Wahrnehmung könnten
wir dann als Interpretation 3 oder 2,5 bezeichnen, nämlich einen
Interpretationsvorgang, der sich seiner bewusst ist. Wo wir zwei oder
mehr
mögliche Interpretationen nebeneinander haben und zwischen ihnen
abwägen, uns
also die Interpretationsregeln angesichts der Alternativen bewusst sind.
Unterscheidung Reduktion – Steigerung
Die Anekdote
Anstelle der Unterscheidung
sinnliche und ästhetische Wahrnehmung
möchte ich eine andere stellen, die der Reduktion und der
Steigerung der
Komplexität der Wahrnehmung.

Dazu eine Geschichte:
Es ist Viertel vor ...., um
sechs macht die Post zu und der Brief muss
unbedingt noch weg. Mit dem Rad durch die Stadt, die Augen auf den
Boden,
rechts und links nur, um das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer
einzuschätzen, geht der Fußgänger auf die Straße,
biegt das Auto aus der
Parklücke, kann ich den Radfahrer noch überholen... ich fahre
durch einen
Tunnel, aus dem großen Angebot an Wahrnehmungsgegenständen
filtere ich das
heraus, was ich brauche... Das Radfahren läuft automatisch, ich
spüre weder den
Sattel noch die Qualität der Lenkergriffe, ich schaue auf die
Uhr... ich sehe
die schönen Frauen nicht, ich höre das Flugzeug nicht, das
über mir fliegt, und
ich rieche auch die Abgase nicht...
Eine Stunde später gehe ich mit
meiner Frau durch die selben Straßen, aber sie sind ganz anders,
wir haben
Zeit... Wir reden darüber, was wir sehen und riechen und
hören, wir zeigen es
uns und wir reden darüber, warum das so ist, wir bewerten
natürlich auch
dauernd....
Die Stadt ist die gleiche
geblieben, aber die Daten, die ich aus ihr „gewinne“, sind andere. Auf
der
Fahrt zur Post war ich im Modus der
Wahrnehmungskomplexitätsreduktion, während
des Abendspaziergangs waren wir mit dem einfach Sichtbaren nicht
zufrieden, wir
haben versucht, die Komplexität der Wahrnehmung zu steigern, durch
genaues
Hinschauen, dadurch dass wir uns gegenseitig auf unsere Wahrnehmungen
aufmerksam gemacht haben und dadurch, dass wir über die
Hintergründe geredet
haben, wir haben also zu den offensichtlichen Erscheinungen noch
Informationen
dazu gesehen, in der oben erwähnten Tradition hätten wir also
ästhetisch
wahrgenommen.
Natürlich lassen sich die beiden
Modi im echten Leben meistens nicht so klar trennen.
Reduktion
Reduktion als Schemabildung
Die Reduktion von Komplexität
(auch der Wahrnehmung) ist von der Systemtheorie aus gesehen der
Normalfall.
<>
<>Schon weil ein System immer
kleiner ist als seine Umwelt, kann es nicht alle Daten verarbeiten, die
die
Umwelt anbietet. Siehe die schon erwähnte Beschränkung des
Auges. Für viele
Umweltereignisse haben wir gar keine Sinnesorgane ausgebildet –
Radioaktivität
können wir nur mit Apparaten registrieren. Es geht auch nicht
darum, die Welt
möglichst genau und wahrheitsgemäß wahrzunehmen. Es
reicht ein Modell, das es
uns ermöglicht zurechtzukommen.
Um zu entscheiden, was zu tun und zu lassen ist, brauchen wir lediglich
angemessene Informationen über die Situation und über
mögliche Entwicklungen.
Um als Radfahrer sicher zur Post zu kommen, darf und brauche ich mich
nicht mit
dem Design der Radkappen der Autos beschäftigen...
Die Reduktion der Wahrnehmung ist
eine Frage der Zeitökonomie. Entscheidungen können
entsprechend schnell
getroffen werden.
Reduktion wird gelernt.
Wie wird der Weg zum Postamt für
mich zu einem Tunnel, wo er doch eine Stunde später ein reicher
Garten voller
bunter Wahrnehmungsangebote ist?
Wenn wir in ähnlichen Situationen
die gleichen Interpretationen immer wieder erfolgreich wiederholen,
entwickeln
wir Routinen; d.h. wir lernen im Laufe der Zeit zu unterscheiden, was
wesentlich und was überflüssig ist.
Bei jeder Wiederholung lassen wir
dann jene Details weg, die wir nicht gebraucht haben. Die Wahrnehmung
wird
dadurch zunehmend einfacher, bis wir im Idealfall ein Muster entwickelt
haben,
das genau passt. So reagieren wir schließlich hauptsächlich
auf einige wenige
Schlüsselreize. Experten können aufgrund relativ weniger
Informationen komplexe
Situationen einschätzen. Als Verkehrsteilnehmer sind wir alle
Experten. Wir
haben gelernt, dass etwa die Farben der Autos oder die Muster der
Kleider der
Passanten für das Zurechtkommen im Straßenverkehr unwichtig
sind – es sei denn
es handelt sich um die Farben von Polizeiautos oder um Uniformen.
Als ortskundiger und erfahrener
Verkehrsteilnehmer kenne ich den Weg wie im Schlaf, was dazu
führt, dass ich
die Reihenfolge der einzelnen Häuser z.T. gar nicht nennen kann,
und ich fahre
ebenso traumwandlerisch sicher Fahrrad. Ganz
anders in einer fremden Umgebung...
(Only by
forgetting, I can see the world as it really is, sagt David
Byrne am Ende
seines Filmes “True Stories”)
Reduktion durch
einfachen Input
Die Tunnelmetapher leuchtet uns ein. Ein Tunnel hat
einen Eingang und einen Ausgang, dazwischen ein gleichförmiges
Wahrnehmungsangebot. Ich kann mich in ihm unabgelenkt von
überflüssigen
Informationen bewegen. Bei der Fahrt zur Post habe ich diesen Tunnel
durch
routiniertes Ausfiltern unnötiger Daten hergestellt.
Aber es lassen sich derartige
Tunnel auch durch entsprechende Gestaltung auf der Angebotsseite
herstellen.
Autobahnen sind genau aus diesem Grunde so wie sie sind. Sie reduzieren
für die
Verkehrsteilnehmer, denen es pressiert, die Komplexität der
Wahrnehmung so,
dass sie sich auf das Wesentliche, das Verkehrsgeschehen konzentrieren
können.
Die genormten Wahrnehmungsangebote der hochgradig vorhersehbaren
Autobahn
machen alle zu Ortskundigen.
Mitteleuropa
Dubai
Genormte Umgebungen erleichtern uns
weltweit das Leben auf Bahnhöfen,
Flugplätzen, in Supermärkten und Fastfoodrestaurants.
Istanbul
München
Hier geschieht die Reduktion der
Wahrnehmung dadurch, dass die Umgebungen nach den selben Mustern
gestaltet
sind, wir diese Muster in entsprechenden Umgebungen gelernt haben und
sie in
den neuen Umgebungen so anwenden wie in vertrauten.
Die internationalen Verkehrsräume
bieten nicht nur die immer gleichen Zeichen und die immer gleiche
Organisation
der Räume, zwischen den Zeichen sind auch relativ wenige
Wahrnehmungsangebote,
die uns ablenken. Werbung auf Flughäfen ist so gelabelt, dass wir
sie bei
Bedarf sofort als solche ausfiltern können.
Am einfachsten lässt sich die
Wahrnehmung rein quantitativ reduzieren. Eine monochrome, homogene
Fläche oder
ein einfaches sich wiederholendes Muster bietet weniger
Wahrnehmungsmöglichkeiten, als eine strukturierte bemalte
Fläche.
Generell lässt sich sagen, dass
Umgebungen, in denen Konzentration wichtig ist, so gestaltet sind, dass
sie
möglichst wenig Reize für Interpretationen bieten –
Operationssäle,
Bibliotheken und und und...
Ein spannendes Feld der Reduktion
stellen Sportplätze und andere Sportumgebungen dar, beim
Fußballfeld, beim
Schwimmbad oder bei der 400 Meterbahn geht es ja nicht alleine um die
Vergleichbarkeit der Bedingungen, es geht vor allem darum, dass nichts
vom
Spiel und seinen Regeln abweicht.
Auf besondere Räume der
Wahrnehmungsreduktion, Galerien, Museen, Konzertsäle, werden wir
später noch
einmal zurückkommen.
Reduktion als ein Modus des Verhaltens
In meiner Geschichte von der
Fahrt zur Post und dem Abendspaziergang habe ich von zwei Modi des
Umgangs mit
Wahrnehmungsangeboten gesprochen. Reduktion bestimmt unseren Alltag.
Alltag ist
Wiederholung, er spielt sich in festen sozialen Umgebungen ab, die auf
Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit des Verhaltens angewiesen
sind. Damit das
Zusammenleben und die Zusammenarbeit gelingen, folgen Wahrnehmungen und
deren
Interpretationen sozialen Mustern, die von der Umgebung vorgegeben und
kontrolliert werden. Der Alltag hat in der Bewältigung des Lebens
feste Ziele,
die möglichst geradlinig erreicht werden wollen. Nichts soll uns
ablenken.
Andere Bereiche, die auf die
quantitative Reduktion von Wahrnehmung angewiesen sind, sind Lesen,
Lernen,
Nachdenken, aber auch Beten und Andacht.
Moschee und Tankstelle in Dubai
Also alles Tätigkeiten, bei denen
unsere inneren Stimmen sprechen. – Für Protestanten sind so
gesehen barocke
Kirchen gelinde gesagt problematisch.
Alles hat wenigstens seine zwei
Seiten.
Die Ökonomie der gelernten
Schemata, die uns schnell und sicher handeln lassen, erschweren es uns,
neue
Situationen als solche zu erkennen. Wenn irgendwo die Vorfahrt
geändert wird,
dann verursachen vor allem einheimische Verkehrsteilnehmer
Unfälle, deshalb
werden auffällige Blinkanlagen installiert. Trotzdem passieren
Unfälle oft noch
nach Wochen oder Monaten der Umstellung, die Einheimischen sehen
nämlich die
neuen Verkehrszeichen einfach nicht. Bei Routinewahrnehmungen verwendet
das
Gehirn die immer gleichen Verbindungen, diese werden stabiler, je
öfter sie
verwendet werden.
Für erfolgreiches Handeln und Verhalten müssen Systeme ein
angemessenes
Verhältnis zwischen Schema und Schemabruch entwickeln.
Dem Modus der Schemabildung, der
Wahrnehmungskomplexitätsreduktion muss der Modus des Schemabruchs,
der
Wahrnehmungskomplexitätssteigerung gegenüberstehen, um das
System flexibel zu
halten.
Steigerung
Wenn wir die Schemabildung und
Reduktion im Alltag, in den täglichen Routinen, in der Arbeit, den
Wiederholungen und der Konzentration gefunden haben, so sollten sich
die
Steigerungen im Fest, in der Freizeit, der Muse, im Spiel, im
Vergnügen und der
Unterhaltung finden lassen.
Ich möchte die Steigerung am
Tourismus und an der Kunst untersuchen.
Steigerung lässt sich nach dem
gleichen Modell, das wir schon bei der Reduktion verwendet haben,
sowohl
quantitativ und qualitativ betrachten; also Steigerung durch Input und
Steigerung durch Verarbeitung.
Eigenartige Reisende
Venedig
Dubai
Ein außerirdischer oder auch
mittelalterlicher Beobachter, der den Tourismus beobachtet, sieht
Menschen aus
verschiedenen Gegenden an Orte reisen, an denen sie sich einige Zeit
aufhalten,
ohne zu arbeiten, um dann wieder dorthin zurückzukehren, wo sie
sich die meiste
Zeit des Jahres aufhalten. Die Reiseziele sind nicht
gleichmäßig über das Land
verteilt, es kommt zu Konzentrationen. An diesen Orten bemerkt er, wie
verschiedene Angebote hergestellt oder inszeniert werden, Kirchen
werden
angestrahlt, Erlebnisschwimmbäder gebaut. Diese Angebote werden
vor allem von
den Fremden genutzt.
Allerdings
wird unser Beobachter
auch Reisende bemerken, die diese Angebote kaum oder gar nicht
frequentieren,
sondern anderen Geschäften nachgehen. Wenn er mit großer
Sensibilität
ausgestattet ist, wird er feststellen können, dass sich die zwei
Typen von
Reisenden unterschiedlich benehmen: was sich z.B. an ihren Bewegungen
und an
ihrer Kleidung zeigen kann.
Wir haben es längst bemerkt, der
zweite Typ Reisende ist ein Geschäftsreisender, er wird für
unseren Beobachter
schwieriger von den Einheimischen zu unterscheiden sein als der
Tourist. Die
Motive des Geschäftsreisenden könnte er leichter verstehen
als die Rationalität,
nach der der Tourist sein Verhalten ausrichtet.
Steigerung durch Input
Goethe in
der Campagna
Der Tourismus, so wie wir ihn
heute betreiben, hat seine Wurzeln in der Grand Tour des 18.
Jahrhunderts.
Diese große Reise führte als Teil der Erziehung auf
verschiedenen Routen
ursprünglich von England zu den klassischen Stätten Italiens.
Neben Erfahrung
und eigene unmittelbare Wahrnehmung ging es um Abenteuer und
Vergnügen.
Offensichtlich ging es um mehr als Wissen, das sich auch aus
Büchern gewinnen
ließe, es ging um Bildung durch Erfahrung und Erlebnis...
Goethe
liest und
....... schaut aus dem Fenster
Der Tourist gibt sich nicht mehr
mit dem Wissen aus den Büchern, also mit Informationen und
Nachdenken
zufrieden, er will die besondere Erfahrung:
Das Erlebnis ist das Ziel des
Touristen.
Die Ziele des modernen Tourismus
sind immer noch die gleichen, Bildung und Vergnügen. War die Grand
Tour ein
einmaliges Ereignis innerhalb der Biografie, so ist der jährliche
Urlaubsreise
eine immer wiederkehrende Möglichkeit, unterschiedliche Reisestile
und -ziele
auszuprobieren. Das Interesse ist längst auf nahezu alle Kulturen
erweitert.
Wichtig ist dabei allerdings immer noch das Authentische. Auch die
Suche nach
dem Authentischen ist aus der Tradition der Grand Tour zu verstehen,
die sich
nicht mit dem vermittelten Wissen zufrieden geben will. Wie die
Bildungsinteressen haben sich auch die Vergnügen ausdifferenziert,
sie reichen
von der gekauften Gastfreundschaft im All-inklusiv-Club über den
Sextourismus
bis hin zum lebensgefährlichen Motorradtrekking durch die weglosen
Wüsten
Afrikas.
Im Rahmen der Maxime „mach was aus dir“
verfolgt der Tourist das Projekt des schönen
Lebens. (vgl. Gerhard Schulze: Die
Erlebnisgesellschaft, Frankfurt 1992)
Ein anderer Typ Reisender, der
Wallfahrer,
verfolgt als religiöser Mensch ein anderes Projekt, das des guten Lebens.
Interessant am Rande: In letzter Zeit
wird
das Adjektiv gut zunehmend durch das Adjektiv schön ersetzt,
schönen Tag, ein
schönes Essen, ein schöner Wein...
Das schöne Leben
Gerhard Schulze hat in seinem
Buch „Die Erlebnisgesellschaft“ das Erlebnis und das Projekt des
„schönen
Lebens“ als die Handlungsrationalität unserer Kultur beschrieben.
Im Erlebnis
und im schönen Leben finden wir den Sinn unseres Lebens, auf seine
Verwirklichung
richten sich unsere Handlungen. Erlebnisse ergeben sich aus zwei
Komponenten:
der „äußeren“ Welt mit ihren Wahrnehmungsangeboten und deren
Verarbeitung –
Interpretation – im „Inneren“ des Organismus. Über beide Faktoren
versuchen wir
Erlebnisse zu beeinflussen: Das Wahrnehmungsangebot durch
Situationsmanagement,
wie Schulze es nennt, die Verarbeitung etwa durch Rauschmittel, vor 40
Jahren
wurde der LSD-Rausch als Trip bezeichnet.
Der Tourist ist der exemplarische
Situationsmanager. Er versucht in erster Linie das Wahrnehmungsangebot
zu
beeinflussen. Er geht auf Reisen, um seine Sinnesorganen bestimmten
Eindrücke
auszusetzen, in der Hoffnung, dass diese entsprechende Verarbeitung und
damit
Erlebnisse auslösen... über die Gegenwart hinaus auch mit dem
Ziel, die
Biografie durch angenehme oder spannende Erinnerungen zu bereichern.
Die
Gespräche von Touristen drehen sich meist um Fragen der richtigen
Situation....
Im Tourismus hat sich ein Set von
Methoden und Strategien zur Erlebnissteigerung entwickelt:
Die Fremde I – freiwilliger Schemabruch:
Souk in
Dubai
Touristen begeben sich freiwillig
in die Fremde, in Situationen, in denen sie sich wenig oder kaum auf
routinierte
Wahrnehmung verlassen können, sie bevorzugen Orte, die sich von
ihrem Zuhause
mehr oder weniger unterscheiden.
Weil wir dort vieles nicht
verstehen und doch zurechtkommen wollen, sind wir zu erhöhter
Aufmerksamkeit
und intensiver Wahrnehmung gezwungen. Das geht schon bei der
räumlichen
Orientierung los. Dann kennen wir die Gepflogenheiten nicht und mit der
Sprache
haben wir auch unsere Probleme, so müssen wir auf den Kontext und
andere
nonverbale Zeichen achten. Das braucht Zeit.
Touristen geben sich vor allem in
den ersten Tagen durch ihre wahrnehmende Langsamkeit im Supermarkt
ebenso zu
erkennen wie sonst bei den Sehenswürdigkeiten. Alles kann ihnen
zum Zeichen für
alles Mögliche werden, das Normale wird zum
Außergewöhnlichen und damit zum
Gegenstand von Interpretation und Gespräch.
In der Fremde sind wir automatisch auf eine Steigerung der
Wahrnehmung
angewiesen. Die Fremde ist ein Wahrnehmungsmotor, eine Methode,
die
Komplexität unserer Wahrnehmung zu steigern.
Zweckfreiheit und Sorglosigkeit

Madinat und Burj al
Arab
Madinat-Hotel Jumeira-Beach, Dubai
Touristen verschaffen sich ein hohes Maß an Sorglosigkeit.
Das Fremde löst bei uns an sich
zunächst das Gefühl von Unsicherheit aus – Angst ruft eher
Wahrnehmungsverengung
hervor. Offene Wahrnehmung braucht eine gewisse Sicherheit, und genau
diese
bietet der moderne Tourismus – Sicherheit in der unsicheren Fremde.
Mit der gekauften
Gastfreundschaft erwerben die Touristen Sorglosigkeit. Für alle
Notwendigkeiten
des Lebens und die Sicherheit sorgen die Gastgeber. Touristischer
Urlaub ist
insgesamt betrachtet von einer Reduktion der Komplexität der
Lebensbewältigung
geprägt: die Betten werden gemacht, das Frühstück
serviert und arbeiten muss
man sowieso nicht. So bleibt alle Zeit für Wahrnehmungen.
Wahrnehmung muss
nicht aus Gründen der Effizienz reduziert werden.
Ein Bekannter
hat mir erzählt, er hätte bei einem seiner letzten
Urlaubsaufenthalte in der
Steiermark eine kleine Blume entdeckt und diese mit Hilfe seines
Pflanzenbestimmungsbuches benannt; einige Tage später bemerkte er
dieselbe
Blume in seinem Garten, die dort wohl schon seit Jahren in
größerer Menge
wächst. Von ihm unbemerkt.
Verdichtung:
Touristen bevorzugen Gebiete, die
reich an Details sind.
Souk
Dubai
Souk im Hotel Madinat
Touristen
ziehen die pittoresken Innenstädte den für den Autoverkehr
gestalteten
Gewerbegebieten ebenso vor, wie die Alpen mit ihren unterschiedlichen
Tal-,
Berg- und Felsformationen der norddeutschen Tiefebene. Aus Gastgebern
sind im
Laufe der Geschichte Anbieter von touristischen Erfahrungen geworden,
die sich
nicht mehr allein auf das Vorgefundene verlassen.
Wahrnehmungsangebote
werden von Spezialisten entworfen und hergestellt, um die
Bedürfnisse von
Touristen zu befriedigen.
Wo
es nichts gibt, wie in den Wüsten Nevadas oder der arabischen
Halbinsel, da
werden in Las Vegas oder neuerdings in Dubai künstliche
Erlebniswelten nach
romantischem Muster gebaut.
Bellagio
Nebenbei
bemerkt: An diesen künstlichen
Erlebniswelten lassen sich viele der Bedürfnisse der Touristen
besser und
genauer erkennen und ablesen, als an den zufällig gewachsenen,
denn sie sind
verdichtet und beruhen auf einer Analyse der Bedürfnisse der
Gäste.
Themenparks
und Themenhotels sind verdichtete Nachbauten und als solche sehen die
Besucher
sie immer auch noch als Zeichen für die Originale. Wer
Themenhotels besucht,
beobachtet das Ergebnis von Beobachtungen. Touristen vergleichen den
Nachbau
gerne mit dem Original – Steigerung der Wahrnehmung.
In Dubai wird momentan ca. 2km
vom Strand entfernt eine Indoorskihalle gebaut.
Detailreichtum bedeutet pro
Flächeneinheit eine hohe Dichte an unterscheidbaren
Wahrnehmungsgegenständen,
die sich nicht mechanisch wiederholen. Bei Themenparks gehen die
bedeutungslosen
Zwischenräume gegen null; sie übertreffen ihre Vorbilder an
Detailreichtum.
In
detailreichen Umgebungen gibt es aber immer noch weniger interessante
Zwischenräume, so besteht immer die Gefahr, dass wir die begrenzte
Zeit unnötig
verplempern. Hier hilft uns Baedeker mit seinen Sternen die bedeutenden
Sehenswürdigkeiten von weniger bedeutenden zu unterscheiden. Mit
Baedeker
fahren wir von Highlight zu Highlight und Klammern den Raum dazwischen
aus. –
Dies leisten die Erbauer von Themenparks schon im Entwurf – das Hotel
Venetian
ist
Venetian in Las
Vegas
Venedig mit Kulissenmalerei
abgesehen von der Markuskirche -
die aus Gründen der Pietät nicht gebaut wurde - eine
Verdichtung Venedigs auf
die Sterne Baedekers.
Verdichtung erreichen wir durch
mehr Details und durch Geschwindigkeit.
Und wenn in Venedig umgebaut
wird, dann verdeckt ein Riesenbild die Baustelle.
Fotografieren
In Urlaubszeiten und vor allem
auf touristischen Reisen erreicht die Fotografie ihren
alljährlichen Höhepunkt.
Wer fotografiert, unterscheidet zwischen erinnerungswert und nicht
erinnerungswert und zwischen fotografierenswert und belanglos, so wird
genauer
und intensiver geschaut. Alle Phänomene bekommen die
Zusatzverarbeitung und
damit Aufmerksamkeit „Bild“.
Erzählen
Wer eine Reise tut, hat etwas zu
erzählen. Auch das Erzählen von der Reise und den
Eindrücken, denn davon wird
in erster Linie erzählt, steigert die Komplexität der
Wahrnehmung, einfach dadurch, dass die Eindrücke erinnert und
organisiert werden müssen.
Tourismus als Verarbeitungsweise von Wahrnehmungen
Wenn wir den Tourismus nur unter
dem Aspekt des Situationsmanagements betrachten, übersehen wir
etwas, was
vielleicht das Wesentliche ist.
Touristen
von Duane Hanson
In den Sommermonaten werden von
der Punta Sabbioni im Osten Venedigs mit Schiffen Tausende von
Touristen, die
ihre Ferien an der nördlichen Adria verbringen, nach Venedig
gepumpt. Sie
unterscheiden sich von den Einheimischen, die entweder zur Arbeit oder
zur
Schule fahren, durch ihr Verhalten und ihre Kleidung. Sie versuchen
sofort, die
Plätze auf dem Sonnendeck der Schiffe zu ergattern, dann reden sie
die ganze
Zeit, schauen neugierig auf alles, was sich in der Lagune tut. Manche
lesen in
Reiseführern. Ihre Kleidung ist so, wie sie ihre Kinder in den
Kindergarten
schicken, kurze Hosen, kurze Hemdsärmel, T-Shirts,
Spaghettiträger, nackte Füße
in Sandalen... und alles sehr bunt. Sie
freuen
sich auf die Sehenswürdigkeiten, sie sind mit Fotoapparaten
ausgerüstet Aber
mit ihrer Kleidung werden viele nicht in den Markusdom eingelassen
werden, die
Verantwortlichen halten ihre kindische Kleidung für der Würde
einer Kirche
unangemessen.
Narrenkappen
Auch die Kleidungsstücke, die im
Umfeld des Markusplatzes angeboten werden, würden ihnen nicht
helfen
eingelassen zu werden. Hier gibt es seit Jahren Narrenkappen, die wir
in etwas
abgewandelter Form auch vom Münchner Oktoberfest kennen. Sie
eignen sich für
den einmaligen Gebrauch und werden in der Regel bis zur Stadtgrenze
allerhöchstens bis zum Erreichen des Hotels oder des
Campingplatzes getragen.
Diese Narrenkappen können wir als
ein äußeres Zeichen für die innere Verfassung der
Touristen betrachten. Oder
wir können sie als Versuch sehen, durch dieses Outfit,
Naivität und Neugierde,
also offenes und unvoreingenommenes Wahrnehmen von Narren und Kindern
zu
erreichen.
Outfit und Benehmen sind
deutliche Hinweis auf die spielerische Einstellung gegenüber der
Stadt und
ihrem Erlebnisangebot. Ohne Rücksicht auf andere als
oberflächliche ästhetische
(sinnliche) Reize, verstehen die Touristen die Welt als ein
vergnügliches
Wahrnehmungsangebot. Dieses Verhalten ist den Kulturtouristen ein Graus
und ein
Ärgernis, und die Stadt Venedig will es auch nur bis zu einem
gewissen Grad
tolerieren, wenn wir uns die Kleidungsvorschriften anschauen – Verbot
für
Männer mit entblößtem Oberkörper herumzulaufen.
Nur nebenbei: In ihrem destruktiven, rücksichtslosen,
verantwortungslos aggressiven und imperialen Verhalten gleichen sich
Tourist
und moderner Künstler…
Pornokrawatten in Venedig
Schürzen
Auch an den Waren, die an Orten
wie Venedig angeboten werden, lässt sich diese besondere
Einstellung
festmachen.
Der Tourismus lässt sich auch anders
lesen: es geht nur vordergründig um Situationsmanagement
eigentliches Ziel ist
ein spezifisches Verarbeitungsverhalten von Wahrnehmungsangeboten, und
die
Reise ist nur eine Methode diesen Zustand zu erreichen.
Von dieser allgemeinen
Aufmerksamkeit und Neugierde profitieren auch Museen und andere
kulturelle
Sehenswürdigkeiten, die gerne im Rahmen von touristischen Reisen
besucht
werden. Einheimische kennen sie oft gar nicht von innen.
Andere Beispiele der
Wahrnehmungssteigerung: Filme, Computerspiele,
Stammtischgespräche, Essen
gehen, besonders Kochen, Weine verkosten, &c. Unsere Freizeit ist
angefüllt
mit diesem Verhalten, wenn wir wollen, können wir die Freizeit als
ein großes
Feld des Lernens betrachten... und unser Wort Schule, das bekanntlich
vom lateinischen
schola (Muße) kommt, endlich richtig
verstehen.
Steigerung durch Verarbeitung
Kunstbetrachtung als Steigerung der
Wahrnehmungskomplexität
Wie der Tourismus so findet die
Kunstbetrachtung in der Freizeit statt – außerhalb der Sorge um
die Bedürfnisse
des Lebens. Während der Tourismus als Vergnügen und Erholung
betrachtet wird,
gilt die Kunstbetrachtung als eine ernsthafte Beschäftigung, die
entsprechende
Mühen bereiten kann und muss.
Modus Aufmerksamkeit
Wie Touristen so erkennen wir die
Besucher von Museen und Galerien sofort am Verhalten.
Sie gehen langsam, betrachten die Bilder mit ein wenig zur Seite
geneigten
Köpfen, manche halten sich mit der Hand das Kinn zum genaueren
Hinschauen,
lesen die Titel, schauen sich die Kunstwerke von verschiedenen
Entfernungen an,
manche bleiben lange vor einem Bild sitzen, in Betrachtung versunken.
Unterhaltungen werden leise geführt, die Besucher weisen sich
gegenseitig auf
ihre Beobachtungen und Wahrnehmungen hin, sie reden über die
Ausstellung, die
ausgestellten Werke und über die Kunst.
Das Verhalten erinnert an meinen
Abendspaziergang.
„Aufgabe der Kunst ist es,“
schreibt Michael Goldhaber, „Aufmerksamkeit zu erzeugen.“
Aber schauen wir uns – bevor wir
uns mit Fragen der besonderen Nutzung und Funktion von Kunst
beschäftigen – an,
wie die Ausstellungsbesucher in das Museum, den „Ort des gelehrten
Tuns“,
gekommen sind.
Die meisten haben schon etwas
über die Ausstellung gelesen und gehört. Es gibt eine
spezielle Textsorte, die
Ausstellungen und einzelne Kunstwerke zum Gegenstand hat, die
Ausstellungskritik. Das Feuilleton, ein besonderer Teil von Zeitungen,
beobachtet neben anderen sogenannten kulturellen Ereignissen wie
Bucherscheinungen, Konzerte, Theateraufführungen oder besondere
Architekturen
regelmäßig Ausstellungen und berichtet über sie. Die
Ausstellungsbesucher
wissen sich in einem wichtigen Raum. Was ausgestellt ist, ist kulturell
wichtig.
Museen sind spezielle Ort der Wahrnehmung und
Interpretation
Systemtheoretisch gesehen ist das
Wichtigste am Museum die Tür, dort wird entschieden, was herein
gelassen und
damit gesehen wird und was nicht; dort wird das Besondere vom
Üblichen
unterschieden. Die Exponate erwerben ihren hohen Status allein schon
aus der
Tatsache, dass sie ausgewählt und mit entsprechend hohen
finanziellen Mitteln
aufbewahrt, erhalten und gezeigt werden. Für den Besucher besagt
die Schwelle,
dass alles, was hier ausgestellt ist, innerhalb der Hierarchie von
kulturellen
Gegenständen einen der oberen Plätze für sich
beanspruchen kann.
Der Besuch eines Museums ist
streng ritualisiert. Zunächst ist eine große Türe zu
passieren, die
Eintrittskarte zu besorgen, Mäntel und Taschen abzugeben, um dann
mit der
Eintrittskarte in die Ausstellung zu gehen.
Die Räume sind hoch und groß und
fast leer, die Materialien gediegen, wertvoll und unaufdringlich, die
Zwischenräume zwischen den Exponaten sind, vor allem wenn es sich
um
zeitgenössische Kunst handelt, sehr groß. In der Mitte der
Räume gibt es, wenn
überhaupt, ein paar Sitzmöglichkeiten. Ansonsten werden die
Werke im Stehen
betrachtet, zu große Bequemlichkeit würde der Konzentration
schaden. Die
Architektur dämpft die Geräusche von außen und die
Geräusche, die eventuell von
den sowieso vorsichtigen Besuchern verursacht werden.
Was traditionell der aufwändig
hergestellte Goldrahmen leistete, die Sonderstellung, geschieht heute
über den
leeren Raum, den die einzelnen Kunstwerke um sich herum beanspruchen,
es sind
asketisch unstrukturierte Flächen. Museen sind nicht mit einer
gemusterten
Tapete ausgekleidet. Offensichtlich haben wir uns so
an diese Situation gewöhnt, dass wir andere
Hängungen, die St. Petersburger etwa nicht mehr ertragen
können.
Alles ist wichtig
Kunst ist keine
Wesenseigenschaft, sondern eine Gebrauchsanweisung. Der Umgang macht
Gegenstände zu Kunstwerken. Kunst ist eine Zuschreibung, die u. a.
besagt, dass
in einem Kunstwerk sich eine ganze Welt manifestiere, eine in sich
stimmige
Welt, in der alle Elemente sich gegenseitig brauchen. Es gibt keine
unwichtigen
Details, eine selektive Betrachtung widerspricht der Kunstbetrachtung.
Die
reizarme Umgebung des Museums soll eine entsprechende Betrachtung
ermöglichen,
wie Konzertsäle das richtige Hören.
Bei der Bildbetrachtung, so wie
sie in der Tradition der Kunstpädagogik üblich ist, wird eine
wache und
inhaltlich möglichst offene Wahrnehmung geübt: das Bild darf
zunächst nur
beschrieben werden, inhaltliches Deuten und Sehen wird dabei unter
hohem
Aufwand an Disziplinierung aufgeschoben, damit soll das
gewöhnliche
schematische und kategorisierende Sehen unterdrückt und eine
Steigerung des
gewöhnlichen Sehens erreicht werden. Durch Zurückstellen des
Interesses
(Begehren) eine Steigerung der Wahrnehmung (Erkenntnis).
Manche Bilder der Kunst der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind schon so gemalt, dass sie
sich unserem
Begehren, Inhalte zu erkennen entziehen. Wir schauen uns etwa ein
schwarzes
Bild von Ad Reinhardt so lange und intensiv an, bis wir Flächen
von unterschiedlichem
Schwarz entdecken. Bei gewissen Bildern nähern wir uns hier
eindeutig den
Grenzen unserer Wahrnehmung, unserer Unterscheidungsmöglichkeit,
und manchmal
erreichen wir die Unterscheidung nur dadurch, dass wir mit Hilfe von
Wörtern –
als mentale Schlüsselreize – gezielt unsere Wahrnehmung
beeinflussen.
Offene Interpretation
Diese offene Wahrnehmung wird
unterstützt von der Auffassung, Kunstwerke seien mehr als das, was
wir sehen.
Kunstwerke haben immer die Seite des Bestandes und den Inhalt, die
Bedeutung,
den Sinn. Kunstwerke – das ist banal – sind Gegenstände, die
gedeutet werden
wollen, mindestens sind sie Gegenstände, an denen entlang
wahrgenommen und
gedacht werden soll, die in uns eine Veränderung hervorrufen
sollen, die uns
etwas bringt, dies kann innovativ oder versichernd sein. Moderne Kunst
will
dabei tendenziell eher verunsichern, Fragen stellen – von der Methode
her
erinnert das an den Touristen, der auszieht, um in der Fremde ein
gewisses Maß
an Unsicherheit zu finden.
Damit wir mit Kunstwerken nicht
gleich fertig sind, haben wir die Idee entwickelt, dass sie mehr- oder
vieldeutig sind. Dies wird nicht wie in der alltäglichen
Kommunikation als
Mangel sondern als Qualität begriffen. Wer ein Kunstwerk deutet,
ist sich bewusst,
dass seine Interpretation eine von verschiedenen Möglichkeiten
ist, und er geht
wie Gombrich davon aus, dass sie sich im Laufe der Zeit wieder
ändern kann.
Andere mögen zu anderen Schlüssen kommen, wir sagen, deshalb
nicht, dass sie
sich irren. Die Interpretation von Kunstwerken ist prinzipiell offen
und
unabgeschlossen.
Schauen wir uns zwei Situationen
an, bei denen genaue Wahrnehmung und scharfe Beobachtung ebenfalls eine
entscheidende Rolle spielt. Ein Jäger auf der Pirsch ist auf eine
möglichst genaue
Beobachtung der Umgebung angewiesen, er reagiert auf das kleinste
Geräusch und
geringste Bewegung, er versucht seine Sinne zu schärfen, zum Sehen
nimmt er ein
Fernglas zu Hilfe. Sobald er denkt, er habe ein Wild ausgemacht,
unterzieht er
diese Beobachtung einer genaueren Wahrnehmung und Deutung, ein brauner
Fleck,
der ein Hase sein könnte, wird so lange beobachtet, bis sich die
Hypothese
bestätigt oder verworfen werden muss. Wenn der Fleck sich als
Maulwurfshügel
herausstellt, wird er nicht mehr beachtet. Ziel ist es, möglichst
alle auch die
kleinsten Veränderungen zu registrieren und diese dann als
relevant oder
irrelevant einzustufen.
Ein Arzt, der eine Diagnose stellen
soll, muss zunächst wie der Jäger die einzelnen Symptome
erkennen und diese im
Zusammenhang sehen. Seine Leistung ist es, die Symptome an der
Hypothese zu
erproben. Riskant ist es, wenn die Symptomgruppen falsch
zusammengestellt und
damit falsch gedeutet werden. In beiden Fällen gibt es richtige
und falsche
Deutungen, die an den Folgen ablesbar sind.
Um handlungsfähig zu bleiben,
müssen die Deutungen irgendwann einmal abgeschlossen werden, auch
auf die
Gefahr des Irrtums hin.
Kunstwerke verwenden wir anders,
sie befinden sich in einer eigenen Sphäre. Gerade weil Kunst Kunst
ist, und
alles andere alles andere, haben sie keine Relevanz in der Welt. Gerade
weil
Kunstwerke nur dazu da sind, betrachtet, wahrgenommen und interpretiert
zu
werden, kann ihre Interpretation unabgeschlossen bleiben. Kunstwerke
haben
keine Zwecke außerhalb ihrer selbst und deshalb haben sie auch
keine direkten Auswirkungen
auf die Welt. Sie sind keine Kommunikationsmittel. Das lässt sich
sehr leicht
zeigen, wenn wir uns einen Maler vorstellen, der seine Bilder so lange
umändert, bis er verstanden wird.
Eine abgeschlossene
Interpretation hat immer etwas mit Zwecken zu tun. Einen Sachverhalt
verstehen
heißt immer, ihn auf sich beziehen, möglichst scharf
zwischen Figur und Grund
zu unterscheiden und zu verstehen, was dies soll. Ein „richtig“
verstandenes Kunstwerk,
das mir ein pragmatisches Handeln ermöglicht, hat aufgehört,
ein Kunstwerk zu
sein.
Aber noch mal: die
unabgeschlossene und offene Deutung der Kunstwerke ist nicht Wesens
immanent
sondern eine Setzung, Teil der Gebrauchsanweisung Kunst. Wie
unterstützt die
Kunst diesen Gebrauch?
Mehrdeutig
Kunstwerke sind keine
Kommunikationsmittel, dennoch gehen wir immer mit der Frage nach ihrer
Bedeutung an sie heran. In der Bildwissenschaft werden Bilder als
Prädikate verstanden;
um mit ihnen kommunizieren zu können, muss das, worüber sie
eine Aussage
machen, benannt werden. Bilder in der Bildkommunikation bekommen vom
Sender die
Information darüber mit, worüber das Bild eine Aussage macht.
Venedig 2003
Dieses Bild kann uns zeigen, wie
Feuerlöscher aussehen, wie sie bereit gehalten werden, dass es
sich um einen
Innenraum handelt, dass die Anstreicher nicht ganz sauber gearbeitet
haben,
dass der Feuerlöscher überprüft wurde, dass die Putzfrau
nicht aufgeräumt
hat.... wenn einer mit diesem Bild etwas mitteilen will, dann muss er
dazu
sagen, was er mitteilen will.
Kunstwerke können wir als Bilder
verstehen, bei denen die Regel gilt, dass der Betrachter das,
worüber das Werk
eine Aussage macht, selbst wählen kann. Diese Regel gilt nicht
immer in der
gleichen Stringenz. Aber wir kennen vor allem aus den 60er und 70er
Jahren des
letzten Jahrhunderts die weitverbreitete Sitte, Kunstwerke mit „ohne
Titel“ zu
betiteln. Eine andere Methode, unabgeschlossene Interpretationen und
damit
immer neue Wahrnehmungen zu provozieren, ist es, eine unauflösbare
Diskrepanz
zwischen bildlichem Befund und Titel zu erzeugen: habe ich das eine
gedeutet,
widerspricht dieser Deutung das andere, usf. so entsteht eine
unablässige
Interpretationsmaschine... dass wir die Interpretationsversuche nicht
irgendwann aufgeben und den Gegenstand als Unsinn abtun, hängt mit
der Annahme
der Wichtigkeit der Werke zusammen.
Innovation - Schemabruch
Seit der Entstehung des
Kunstbegriff im 18. Jahrhunderts wurde die Forderung nach Innovation
und
Schemabruch zu der Konstanten der
Kunst. Kunst und innovativ werden synonym gesetzt. Aufgabe des
Künstlers ist
es, Neues neu wahrzunehmen und zu formulieren, damit der Betrachter die
Welt
neu sieht.
Kunst kennt natürlich nicht nur
die Steigerung durch Verarbeitung, allerdings dominiert dieser Modus
die
moderne Kunst qualitativ und quantitativ.
Tourismus und Kunst
Wir haben festgestellt, dass es
zwischen dem Tourismus und der Kunst einige signifikante Parallelen
gibt:
·
in beiden Systemen geht es um die
Steigerung der
Komplexität der Wahrnehmung und um Schemabruch
·
beide Systeme sind von einem
ähnlichen Set von
Verhaltensweisen und Einstellungen geprägt
·
beide stellen in dieser oder jener
Form eine
Alternative zum Alltag dar
Unterschiede bestehen tendenziell
eher in der Inszenierung der Wahrnehmungsangebote, während der
Tourismus auf
Informationoverload und Opulenz setzt, operiert die Kunst
überwiegend mit Askese und
Reduktion, tendenziell ist der Tourismus eher durch die Quantität
der
Wahrnehmungsangebote, die Kunst durch die Quantität der
Interpretationen
geprägt.
Künstlerische Großereignisse wie
die Documenta oder die Biennale in Venedig setzen allerdings zunehmend
auch auf
Quantität im touristischen Sinne. Was von traditionellen
Kunstfreunden eher
kritisch vermerkt wird. Die bürgerliche Ethik verabscheut den
Tourismus immer
ein wenig als billiges, weil oberflächliches Vergnügen und
spricht der Kunst
dagegen einen der höchsten zu vergebenden Werte zu. Tourismus ist
Erholung und
Zeitvertreib, Kunst Erbauung und höchster Erkenntnisgewinn mit dem
Versprechen
der tiefsten Einsichten.
Erlösung aus dieser Diskrepanz
verspricht der Kulturtourismus....
Steigerung durch Input oder Verarbeitung?
Beide Vorgehensweisen können wir
als Methoden beschreiben, unser Wissen zu vermehren und flexibel zu
halten. Das
Kulturverständnis, das unsere Hochkultur bestimmt, tendiert dazu,
die
Steigerung von Wahrnehmung durch Verarbeitung, also Interpretation
höher zu bewerten,
als die durch Steigerung des Inputs. Lieber ein langsamer
europäischer
Kunstfilm als ein schneller aus Hollywood, lieber Venedig in der Adria
als
Venetian in Las Vegas. Die feinen Unterschiede zwischen dem Souk am
Creek von
Alt-Dubai und seinem Nachbau in der Nachbarschaft des Burj al Arab sind
so
gesehen vor allem soziologisch relevant.
Was ist zu lernen?
Als Fachdidaktiker muss ich mich fragen, was zu lernen ist.
Im Feuilleton wird bis heute eher über das Besondere, das
Außergewöhnliche berichtet, Ausstellungen,
Theateraufführungen, Konzerte,
Bucherscheinungen, die jeweils nur einen Bruchteil der Bevölkerung
erreichen,
sind Gegenstand von öffentlichen Diskursen. Architektur kommt nur
vor, wenn es
sich um spektakuläre Bauten handelt...
Burj al Arab
Das Feuilleton versteht sich offensichtlich weniger als
kritische, denn als vermittelnde Instanz. Tiefbau und damit
Streckenführung und
die damit verbundene Inszenierung von Landschaft durch Straßenbau
sind z.B. nicht
Gegenstand der öffentlichen Beobachtung, obwohl diese unser
Weltbild wesentlich
nachhaltiger beeinflusst als irgendein Museumsbau oder eine
Ausstellung.
Genauso wenig kümmern sich die Feuilletons um die
alltägliche Architektur. Hier Beispiele von Villen, wie sie
momentan in Dubai
zu hunderten in den Sand der Wüste gestellt werden.
Villen in Dubai
Wie wir im Alltag
übersieht auch die Zeitung das Normale.
Der Umgang mit Kunst ist extrem unwahrscheinlich
Der Umgang mit Kunst,
so wie wir ihn in unserer Kultur seit ca. 250 Jahren betreiben, ist in
der
Geschichte der Menschheit einzigartig und extrem unwahrscheinlich. Die
Kunstwissenschaft ist noch immer damit beschäftigt, dieses
Phänomen angemessen
zu erklären... Kunst wird heute u.a. als eine wichtige Alternative
zur weltweit
zunehmenden Schematisierung der Wahrnehmung verstanden. Wir sind der
Überzeugung, dass keine andere Institution hier entsprechende
Angebote macht.
Weil der Umgang mit Kunst nicht selbstverständlich ist, muss er
gelernt und
geübt werden. Dazu gehört neben der Übung in Analyse und
Deutung auch die
Möglichkeit, sog. Kunsterlebnisse zu erfahren, um das Interesse
für dieses Phänomen
ein Leben lang zu wecken.
Zu vermitteln ist vor
allem die besondere Aufmerksamkeit, die Kunstwerke brauchen, zu
vermitteln
durch Wissen über den Umgang mit Kunst, aber vor allem durch
Übung, also durch
praktischen Umgang durch Erfahrung.
Dies leistet der
Kunstunterricht in der Regel durchaus erfolgreich.
Das Schema ist das Normale und fast unsichtbar
Die schematische
Wahrnehmung und die daraus folgenden Verhaltensschemata laufen, wie wir
gesehen
haben, weitgehend unbewusst ab. Dies gilt für die
alltäglichen Situationen
ebenso wie für die Medien, man sieht oder hört sie und hat
schon verstanden.
Zumal die Massenmedien sich mit hohem Aufwand darum kümmern, ihre
Botschaften
so zu formulieren, dass uns das Verstehen leicht fällt. Dass wir
dieses
Verstehen und Wahrnehmen auch einmal gelernt haben, haben wir im Laufe
der
Schemabildung weitgehend vergessen. Die Welt wird als gegeben und fest
angenommen,
es gibt nichts zu verstehen.
Unsere Welt ist die der
schematisierten Wahrnehmung, diese Wahrnehmung ist unsere Kultur, sie
ist das
Normale, in ihr bewegen wir uns wie der Fisch im Wasser. Die
Kunstpädagogik,
die sich von der Kunst her legitimiert, kümmert sich bis heute wie
das
Feuilleton um das Besondere, das Alltägliche vergisst sie
weitgehend.
Geht es bei der Kunst
darum, unwahrscheinliche Verhaltensweisen zu lernen und zu verstehen,
was die
Kunstwerke bedeuten, so geht es bei der Wahrnehmung im Alltag darum
normale,
also wahrscheinliche Verhaltensweisen, die jeder beherrscht, zu
verstehen und
zu verstehen, wie das Verstehen funktioniert. Dies ist gar nicht so
leicht bei Erscheinungen,
die uns nicht besonders auffallen. Kunstpädagogik ebenso wie ihre
Schwester die
Museumspädagogik fällt z.B. in der Regel auf die Exponate in
den Museen herein
und übersieht dabei das Museum als Medium.
Nachdem geklärt ist,
dass auch das Normale Gegenstand der Bildnerischen Erziehung sein muss,
da es
den größten Teil der Welt ausmacht, bleiben die methodischen
Fragen noch offen.
Es bieten sich hier
zwei Lösungen an:
Touristische Lösung
Wir betrachten andere
Kulturen und sehen durch sie hindurch unsere Kultur, unsere
Normalität als eine
von vielen Alternativen, die sich prinzipiell verändern
lässt. So können wir
den Einfluss unserer Normalität auf unser Denken verstehen und
wenn nötig
verändern. Wenn die Globalisierung der Weltansichten so
fortschreitet wie
bisher, werden wir zunehmend Schwierigkeiten haben, entsprechende
Kulturen zu
finden, die sich in ihrer Differenz als alternative Standorte eignen.
Dschungelcamp
Vielleicht werden wir
dann Erlebnisumgebungen schaffen, die sich in ihren Regeln und damit
Wahrnehmungen soweit von der normalen Welt unterscheiden, dass sie
spielerisch
wie heute der Tourismus diese Funktion erfüllen können –
erste Ansätze finden
sich schon in TV-Shows, vielleicht werden wir nach dem Ekel-Modell von
„Holt
mich hier raus! Ich bin ein Star!“ rohe Ameisen und Schnecken verzehren
und im
Winter im tiefen Schnee Lapplands ohne Zelt nächtigen...
vielleicht werden die
Computerspiele Funktionen des Tourismus übernehmen.
Wir könnten aber auch
fiktiv in die Rolle eines Touristen schlüpfen und unsere Umgebung,
unsere
Gebräuche und Schemata mit seinen Augen betrachten, oder wir
könnten etwas ganz
ähnliches versuchen, nämlich die
Lösung Duchamp
Vor ungefähr neunzig
Jahren hat Marcel Duchamp aus einer dadaistischen Laune heraus, einige
gewöhnliche Gegenstände, deren Wahrnehmung schematisch war,
auf den Sockel
gestellt.
Duchamp
Mit der damit
verbundenen Gebrauchsanweisung oder besser –empfehlung: „Betrachten Sie
es als Kunst!“ sind aus diesen Gegenständen
Kunstwerke geworden. Duchamp wollte damit den Kunstbetrieb in Frage
stellen
oder lächerlich machen oder kritisieren... Damit hat er der Kunst
eines ihrer
größten Probleme gemacht: Kunst muss seit dem nicht mehr
hergestellt werden, es
reicht, wenn ein Künstler sie hinstellt. Nachdem seine Ready-mades
vom System
anerkannt wurden, werden sie ebenso intensiv betrachtet wie Kunstwerke.
Nichts
wird für selbstverständlich erachtet, allem eine tiefere
Bedeutung unterstellt.
Allerdings können aufgrund der Struktur des Kunstsystems – Verbot
des Plagiats,
Gebot nach Innovation – nicht beliebig viele Gegenstände und
Vorgänge auf
entsprechende Sockel gestellt werden... Deshalb schlage ich in kleiner
Abwandlung zu Duchamp vor, die Umgangsweise, die wir in der Kunst
entwickelt
haben und die wir im Kunstunterricht vermitteln, auf den Alltag
anzuwenden,
nach der Gebrauchsempfehlung: „Betrachten Sie es wie
Kunst.“
Anstehen an der Kasse des Supermarkts als Performance und die
Wegführung der
Autobahn wie einen Park, die Tankstelle und das Tanken wie eine
Kathedrale, die
Plakattafel wie ein Wandgemälde und das Ikea-Glas wie eine
Skulptur...
In diesem Sinne würde es mich freuen, wenn Sie die Stempel,
die Sie bekommen, unserer kulturellen Normalität aufdrücken
und sie aus der
Dunkelheit ihrer schematischen Wahrnehmung herausreißen
würden, als kleiner
Beitrag zur kulturellen Bildung.
Franz Billmayer, Salzburg
im Jänner 2005
Es ist nicht so, wie der Brockhaus schreibt: „Jedes Bild, das die Augen wahrnehmen, wird von
den Photorezeptoren der Netzhaut aufgenommen und über den Sehnerv
weiter ans
Gehirn geleitet.“ (c) Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus
AG, 2001
Das Bild wird nicht aufgenommen, sondern löst eine Unmenge von
Reizen aus.
Gerhard Roth: Das Gehirn und
seine Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1997, S.124